Der Oberbürgermeister von Marburg, Dr. Thomas Spies (SPD), hat Greta Thunberg in unsere schöne Stadt eingeladen. Er hat der 16jährigen Schwedin ausdrücklich für ihr Engagement in Sachen Klimaschutz gedankt und stellte sich – oh Wunder – sogar hinter die Friday-for-future-Bewegung, die von anderen Politikern als angstkranke Schulschwänzertruppe betitelt wird. Wie wohltuend hebt sich sein freundlicher Brief ab von den Diffamierungen aus den Kreisen von Journalisten und Politikern, die Greta Thunberg entweder unterstellen, von irgendwelchen Geschäftsleuten manipuliert zu werden, oder aufgrund ihres Asperger-Syndroms die Lage der Welt nicht einschätzen zu können. Der Bürgermeister von Marburg und ich sind da offenbar ganz anderer Meinung.
Auf der Klimakonferenz Anfang Dezember in Polen hatte Greta Thunberg mit einem Satz schockiert, den die zunehmend mächtigen Konservativen Klimawandelleugner bis heute nicht verdaut haben. Am Schluss einer Rede sei es üblich, Hoffnung zu machen. Sie aber wolle keine Hoffnung, sie wolle, dass die versammelten Verantwortlichen Angst bekämen, sagte die Schülerin sinngemäß. Wenn das eigene Haus brenne, so gehe man sofort hin und lösche es, fügte sie hinzu. Offenbar haben viele junge Menschen erkannt, was uns Älteren in unserer saturierten Behäbigkeit schwer zu vermitteln ist: Es ist fünf nach zwölf.
Bemerkenswert finde ich die Reaktion auf die wachsende Zahl der Schülerinnen und Studierenden, die sich für einen Politikwechsel einsetzen. Die meisten bürgerlichen Journalisten suchten sofort nach den Fehlern der Bewegung, versuchten, Greta Thunberg und ihren Schulstreik zu diskreditieren. Über die Inhalte ihrer Reden, über die von Klimaforschern bestätigten aussagen wurde schnell kein Wort mehr verloren, stattdessen wurde zunächst Greta Thunberg, und dann alle Mitstreiter als weltfremde Kinder bezeichnet, die psychologische Hilfe bräuchten, und dann als faule Schulschwänzer diffamiert, die sich von einer verwöhnten 16jährigen Tochter reicher Eltern Angst einjagen ließen. Und dieses Mädchen sei auch noch Autistin und habe daher keinerlei realistische Urteilskraft. Und als auch dieses Argument nicht zog, behaupteten sie, Greta Thunberg und somit auch alle anderen engagierten Jugendlichen würden von mächtigen grünen Lobbygruppen instrumentalisiert. Seltsam: Bis kurz vor Gretas Auftauchen hatten dieselben Leute sich noch darüber beklagt, dass den Jugendlichen die Welt egal sei, dass sie sich nicht für Politik interessierten, dass sie keine Verantwortung übernehmen wollten. Diesen bestenfalls ignoranten, schlimmstenfalls hasserfüllten Konservativen geht es doch nur darum, sich nicht bewegen, nichts ändern zu müssen, die Schlacht um die Deutungshoheit über die Weltlage nicht gegen junge Menschen zu verlieren. Dazu ist ihnen jedes Mittel recht: Kinderbashing, Diskriminierung behinderter Menschen, Rufmord. Die Wut ist wieder einmal ausgebrochen, und sie schäumt und geifert ohne jedes Maß über diejenigen hinweg, die eigentlich unsere Unterstützung und unser Verständnis brauchen.
Mir ist völlig egal, ob sich Greta Thunberg immer und in jedem Falle tadellos ausdrückt und verhält, ob sie Asperger hat, oder ob sie die Tochter einer Opernsängerin ist. Für mich ist wichtig, was sie sagt, und sie sagt nichts Anderes als über 98 % der Klimaforscher. Nur sagt sie es so, dass Jugendliche sie verstehen, aufwachen und sich ihr anschließen. Was uns alle, und ich nehme mich da nicht aus, am meisten schmerzt, ist die Tatsache, dass sie selbst weitgehend nach ihren Idealen lebt. Sie fährt zum Weltwirtschaftsgipfel nach Davos mit der Bahn, auch wenn das 32 Stunden dauert, sie und ihre Eltern versuchen, nachhaltig zu leben. Die kleingeistigen, neidischen Journalisten vor Ort reagieren mit Häme, wenn Greta Thunberg in Davos eine Nacht nicht im Zeltdorf der Wirtschaftsgipfelgegner, sondern in einem Hotel schläft, weil sie nach der anstrengenden Reise mal wieder in einem echten Bett schlafen muss. Aber wehe, sie ist in der Schule nicht ausgeschlafen…
Der Oberbürgermeister von Marburg hat Greta Thunberg in unsere schöne Stadt eingeladen. Ich hoffe, dass sie kommt, und ich hoffe, sie wird dem Ohrfunk für ein Interview zur Verfügung stehen. Natürlich nur dann, wenn nicht geschieht, was eine deutsche Journalismusikone vermutet, dass nämlich die angstmacherische Schülerin spätestens nach der sechsten pressekonferenz wieder in der Versenkung verschwinden, dass der Hype um sie schnell wieder abflauen werde. So viel Arroganz und Überheblichkeit ist mir nicht einmal eine Erwiderung wert.
Diesen Beitrag können Sie auch in meinem Podcast hören.