Grass und die Bombe

Günther Grass hat ein Gedicht geschrieben.

Eines kann man aus der allgemeinen Erregung zweifelsfrei herauslesen: Das Bewußtsein der Deutschen für die besondere Beziehung zu Israel, und das heißt natürlich auch, den stets gebotenen Tanz auf Eierschalen, ist gut entwickelt. Die Angst der deutschen vor einem neuerlichen kalten Krieg und vor Atombomben ist allerdings nicht minder gut entwickelt.

Die Politik ist ganz wunderbar an diesen Befindlichkeiten vorbeigeschossen; es gibt - Westerwelle sei Dank - eigentlich keine deutsche Haltung zu der Entwicklung im nahen Osten, und es gibt abseits von aus historischen Anlässen gehaltenen Sonntagsreden auch keine wie auch immer geartete deutsche Haltung zu Israel mehr. Unsere Beziehungen haben sich nicht normalisiert, sie haben sich marginalisiert.

Anders ist auch die unbegrenzte Hybris nicht zu erklären, mit der dieses Gedicht von offizieller israelischer Seite aufgenommen wird. Die "Zeit" hat es sich nicht nehmen lassen, Günther Grass freudianisches "Es" in dem Gedicht zu entdecken - gut, es war Josef Joffe, der sich dazu verleiten ließ, ein Mann, der hart daran arbeitet, der Ulf Poschardt im Fachblatt der deutschen Intelektüllen zu werden (gestern dann gleich nochmal mit "I love Schäuble").

Da wir aber seit neuestem an allen Fronten ganz tiefenpschüchologisch arbeiten, erlaube ich mir, im nahen Osten einen traumatisierten Sechsjährigen zu entdecken, der aufgrund einer grauenhaften Geschichte von Mißbrauch und Todesangst nun nicht nur zurecht sehr mißtrauisch auf seinen ehemaligen Peiniger blickt, sondern eben auch ein bißchen überdreht. Er bleibt bis spät in die Nacht auf, er mordet Eichhörnchen und zündet Briefkästen an, und die Weltgemeinschaft sagt: Ach, laß ihn doch, der Junge hatte es doch so schwer. Und eines ist mal wahr: Es gäbe in dem beschriebenen Szenario exakt eine Person, die von jeglichen Versuchen der Beschwichtigung und Erziehung abzusehen hat, das ist der böse Onkel, der für den Mißbrauch verantwortlich war, so berechtigt die Kritik auch sein mag, so nötig es auch sein mag, einzuschreiten, bevor es weiter aus dem Ruder läuft.

Günther Grass war nun auch nicht dieser böse Onkel. Aber er hat dabei gestanden; er war zumindest Teil der Familie des Onkels, die mal applaudierend, mal jubelnd, gerne aber auch mal nichtsahnend und mit fest zugehaltenen Augen nicht mitverantwortlich, sondern verantwortlich war. Und damit ist er der falsche, um zu sagen, was gesagt werden muss, und das hätte er auch wissen können.

Hätte ich, als Nachkomme dieser Familie, vergleichbares geschrieben, hätte es immer noch einen unschönen Beigeschmack. Ich habe theoretisch einiges an Kredit aufgebaut. Ich gehöre zu der Generation von Deutschen, der man quasi von höchster Stelle, nämlich Donald Rumsfeld, bescheinigt hat, ich müßte "wieder töten lernen". Das ist verwirrend, denn wenn meine Familie in einem gut ist, dann ist es die Herstellung von Waffen.

Aber wir benutzen sie nicht, wir schicken sie in alle Welt; als drittgrößter Waffenexporteur des Planeten muss man nicht töten lernen, solange genug Nachfrage da ist - das ist in den USA durchaus ein Problem.  'Wir haben dem Sechsjährigen längst nicht nur einen Elektroschocker für den nächsten bösen Onkel geschickt, der kann mittlerweile seine gesamte Nachbarschaft in Schutt und Asche legen, und auf den Trümmern wird einmal mehr "Made in Germany" stehen. Wie man es also dreht und wendet: Als moralische und auch moralisierende Instanz bin ich weiter ein Totalausfall, es gibt auf jeden Fall genug Nasen, an die ich fassen kann, bevor ich auch nur über anderer Leute Nasen nachdenke. Und auch deswegen ist Grass der Falsche, um zu sagen, was gesagt werden muss, und das hätte er auch wissen können.

Aber die Aussagen machen ihn nicht zum Kinderschänder - pardon: Zum Antisemiten, um mal aus dieser Metapher rauszufinden. Zum Antisemiten wird man durch Antisemitismus, nicht durch Kritik an einem Staat, der eine vergleichlose Leidengeschichte aufgrund von Antisemitismus hinter sich hat. Kritik am jüdischen Staat kann antisemitisch sein, aber dafür muss sie nunmal betontermaßen in dieser Form eben auch nur an diesem Staat vorgenommen werden. Es wäre antisemitisch, zu behaupten, es wäre typisch jüdisch, eine Bevölkerung zu unterdrücken, es wäre typisch jüdisch, Atombomben zu bauen, typisch jüdisch, seine Nachbarn aufzuhetzen. Wie echter Antisemitismus aussieht, kann man auch durchaus dieser Tage in vielen Foren und Kommentarbereichen sehen, nicht zuletzt bei den Gegnern von Grass, die erstaunlich unreflektiert die Gleichung aufstellen, all das wäre zumindest so jüdisch, dass der Kritiker sich gegen Juden ausspricht.

Wenn die Geschichte hier überhaupt Anwendung finden könnte, dann in einer verwirrten Frage, nämlich warum Israel es eigentlich nicht besser zu wissen scheint.

Warum ein Land, das Menschenhaß, Unterdrückung, Ausgrenzung und tödliche Hetze besser kennen müsste als jedes andere auf der Welt, nicht zu einem leuchtenden Beispiel dafür geworden ist, das es auch anders geht. Den Job versuchen jetzt stattdessen wir zu machen, zum Beispiel in Gestalt von Günther Grass, und dass das nicht klappt und auch noch ein paar Jahrzehnte nicht klappen wird, hätte er ein weiteres Mal besser wissen können.

Immerhin eines scheint die Debatte gebracht zu haben: Es hat wirklich niemand - außer natürlich Ulf Poschardt- in Frage gestellt, dass es ein atomar bewaffnetes Israel gibt. Und mit einem hat Grass recht: Vermengt mit der völlig außer Kontrolle geratenen Region ist das etwas, bei dem man nicht nur zuschauen kann. Außer uns. Wir sollten Rotwein trinken und die Schnauze halten, wie der Altmeister vor einiger Zeit mal Lafontaine empfohlen hat, und darüber nachdenken, wie es eigentlich sein kann, dass wir selbst dann noch wieder einmal mitschuldig wären, wenn wir einfach nur zusehen, während die Konten unserer Waffenhersteller überlaufen und unsere Regierung den nahen Osten wenn überhaupt nur zur Selbstdarstellung nutzt. Jetzt mit neuer Brille.

Zeit für das Wetter.

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