Graphen: Wunderfolie aus der Retorte

Von Urzeit
Graphen gilt als großer Hoffnungsträger der Elektronik. In dem nur eine Atomlage dicken Wabengitter aus sechseckigen Kohlenstoffringen können sich Ladungen extrem schnell bewegen. Außerdem erlaubt das ultradünne Material den Bau von Schaltkreisen, die um Größenordnungen kleiner sind als die heutigen. Einziger Haken: Bisher lässt sich Graphen nur in winzigen Mengen mit einer ziemlich plumpen Methode von Hand gewinnen – indem man mit Tesafilm von einem Graphitkristall einzelne Schichten abpellt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft, August 2012
Chemiker haben sich deshalb daran gemacht, mit ihrer Stoffkenntnis und ihrem Methodenarsenal einen besseren Syntheseweg zu finden. Dabei verfolgen sie naturgemäß einen ganz anderen Ansatz als Physiker und Materialforscher. Während diese versuchen, aus dem Graphit das Graphen als kleinere Komponente mechanisch herauszupräparieren, bevorzugen Chemiker die umgekehrte Vorgehensweise: das Molekül wie beim Lego aus kleineren Bausteinen zusammenzusetzen. Dabei konnten sie schon beachtliche Erfolge erzielen, wie Klaus Müllen, Direktor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz, im Augustheft von Spektrum der Wissenschaft berichtet.
Ausgangspunkt der chemischen Synthese ist der sechseckige Benzolring, an den es viele weitere solche Ringe seitlich anzufügen gilt. Dafür gibt es erprobte Verfahren, die zu so genannten polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAKs) führen. Allerdings werden die Moleküle mit zunehmender Ausdehnung immer unhandlicher, was der Methode Grenzen setzt. Größere Ausschnitte aus dem Graphengitter lassen sich herstellen, wenn man die Synthese auf einer Metalloberfläche durchführt, an der die Reaktionspartner und -produkte flach aufliegen. Auf diese Weise ist es inzwischen gelungen, Graphenmoleküle mit Abmessungen von einigen zehn Nanometern (millionstel Millimetern) herzustellen. Sie sind damit nur noch etwa hundertmal kleiner als vom Graphit abgepellte Proben, die einige Mikrometer (tausendstel Millimeter) messen. Vor allem aber lassen sich mit dem Verfahren lange Nanostreifen aus Graphen erzeugen, die je nach Bedarf gerade oder zickzackförmig verlaufen oder wie beim Mercedesstern y-förmig angeordnet sind. Sie sollten sich für elektronische Anwendungen noch besser eignen als das großflächige Material.
Die chemische Herstellungsmethode hat zugleich den Vorteil, ein perfektes Produkt ohne jede Fehlstelle zu liefern. Abgepellte Proben können da nicht annähernd mithalten. Allerdings ist das Verfahren ziemlich aufwendig und damit teuer. Deshalb haben Chemiker auch einfachere Alternativen erprobt. Eine besteht darin, PAKs bei großer Hitze miteinander zu verbacken. Eine andere geht vom Graphit aus, das mit starken Oxidationsmitteln versetzt wird. Dabei heften sich Sauerstoff und sauerstoffhaltige Gruppen an die Graphenschichten, wodurch diese sich von allein ablösen. Dem so entstandenen Graphenoxid muss anschließend der Sauerstoff wieder entzogen werden. Beide Verfahren liefern nicht ganz so perfekte Graphenfolien. Doch ist es damit gelungen, preiswerte Fensterelektroden für Solarzellen herzustellen, die heute üblicherweise aus teurem Indiumzinnoxid bestehen.
Chemiker können bei ihren Synthesen auch gezielt Fremdatome wie Stickstoff einbauen und das Material auf diese Weise analog zum Silizium dotieren. Eine erste Anwendung dafür gibt es bereits: Katalysatoren für Brennstoffzellen, die aus Wasserstoff und Luft elektrischen Strom gewinnen und möglicherweise die Elektrofahrzeuge der Zukunft antreiben werden. Heute bestehen sie aus teurem Platin. Mit Stickstoff dotiertes Graphen, hergestellt durch thermische Verschmelzung polyzyklischer Aromaten, wäre ein preiswerter Ersatz.
Diese zwei Beispiele illustrieren das Potential, das in chemisch hergestellten Graphenmaterialien steckt. Zugleich zeigen sie: Die Chancen stehen gut, dass das Wundermaterial – mit freundlicher Unterstützung der Chemiker – die in sie gesetzten Hoffnungen tatsächlich erfüllen wird.