✰ Grace McCleen – Wo Milch und Honig fließen

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Judith ist zehn und ziemlich einsam. Sie lebt alleine mit ihrem Vater, schon immer, denn ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, doch der kümmert sich lieber darum, die Menschen vom nahenden Ende der Welt zu unterrichten. Und Judith muss mit. Immer. Sie trägt merkwürdig altmodische Klamotten – und ja, auch sie glaubt daran, was ihr Vater ihr erzählt. Jeden Abend lesen sie in der Bibel. Sie haben keinen Fernseher und feiern keinen Geburtstag und kein Weihnachten. Judith und ihr Vater sind Zeugen Jehovas. Und Judith so ziemlich die krasseste Außenseiterin, die es gibt.

Sie hat keine Freunde. Sie hat nur das Land der Zierde. Für Außenstehende mag es ein Haufen Müll sein, den Judith da in ihrem Zimmer angehäuft hat, doch für sie werden Folie zu Seen und Flüssen, Bonbonpapiere zu Blumen und Pfeifenputzer zu Menschen.

Und eines Tages wird aus Watte und Rasierschaum Schnee, denn es soll schneien. Judith hat Angst vor der Schule, Angst vor den anderen Kindern, die sie hänseln und drangsalieren. Bitte lieber Gott, lass es schneien! Am nächsten Tag liegt die Welt vor Judiths Fenster unter einer weißen Decke. Das hat sie ganz allein gemacht! Wenn das so einfach ist, ein wenig Gott zu spielen, dann könnte man doch noch ein wenig mehr geschehen lassen. Dummerweise kann man das dann aber nicht mehr rückgängig machen.

Wo Milch und Honig fließen ist ein Roman über die Macht der Phantasie, der mich sofort in seinen Bann gezogen hat. Das liegt vor allem an seiner bezaubernden Protagonistin Judith, die mit ihren zehn Jahren schon so viel einstecken und erwachsen sein muss. Ihre Fähigkeit, aus dem Nichts eine ganze Welt zu erschaffen, ist etwas Besonderes – aber das sieht leider niemand. Für ihren Vater ist das nur Müll und Zeitverschwendung, und das mit dem Zaubern glaubt er ihr schon mal gar nicht. Für ihn liegt das Ende der Welt nahe, und in diesem Glauben wächst auch Judith auf. Ein erschreckender Gedanke für ein kleines Mädchen. Für mich wäre dieser Gedanke jedenfalls unerträglich – trotz der Aussicht auf ein besseres Leben im Paradies.

Die Quälereien, die Judith jeden Tag ertragen muss, sind für mich kaum auszuhalten, und je weiter die Jungen gehen, desto wütender werde ich nicht nur auf sie, sondern auch auf Judiths Vater, der ihr eine Mitschuld an den Schmierereien und Belästigungen gibt.

Das Land der Zierde verwandelt sich von einem schönen, friedlichen Ort immer mehr zu einem Ort der Rachephantasien und Katastrophen; Judiths Hilflosigkeit ist schmerzhaft spürbar.

Grace McCleen macht in ihrem Debütroman deutlich, wie Mobbing das Leben der Opfer verändern kann, denn Judith ist letztendlich nichts anderes als ein Mobbingopfer. Sie lässt uns durch ihre Augen in eine Welt blicken, die vor ihren und unseren Augen langsam zerbricht. Eine Welt, die sich Judith so mühe- und liebevoll aufgebaut hat. Und so durchzieht den gesamten Roman ein melancholischer, fast trauriger Unterton, auch wenn sich Judith immer wieder um Fassung bemüht, so als wolle sie selbst mich als Leser trösten und mir sagen, dass es doch nicht so schlimm ist. Das bald eh alles vorbei ist und ein besseres Leben auf sie wartet. Darein steckt sie alle ihre Hoffnung, allen ihren Lebenswillen. Ob das nun richtig ist oder nicht, darüber kann und will ich nicht urteilen.

Ein kleines großes starkes schwaches Mädchen.


Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Erschienen bei Deutsche Verlagsanstalt
März 2013
Aus dem Englischen von Barbara Heller
Originaltitel: The Land of Decoration
ISBN: 978-3-421-04546-1
5sterne



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