Gott kennen und lieben

«Gott kennen ist Leben.» Ein guter Spruch von Tolstoi. In jungen Jahren war ich davon so angetan, dass ich ihn als Bekenntnis und Provokation an die Jacke gepinnt herumtrug. Es stimmt ja auch, finde ich noch immer, immer mehr sogar. Die anderen Lebensbezüge haben sich als brüchig und inhaltsarm erwiesen. Aber Gott! Gott trägt und bleibt, ist unfassbar und liebt und lebt und überrascht und überrascht und spricht und schweigt und wirbt und das Allergrösste: Er ist da und wohlwollend zugeneigt.

Gott kennen und lieben

Und da frage ich mich bei alldem und wo ich doch soeben gesagt habe, dass er unfassbar ist: Wie komme ich zum Bekenntnis, dass man Gott kennen könne? Klingt tatsächlich nach Provokation! Denn im Grunde kenne ich ja nicht mal mich selber, bin mir in meinen verworrenen Motiven und schillernden Ambivalenzen oft selber ein Rätsel. Und da will ich tatsächlich Gott kennen …? Riecht nach jugendlicher Naivität.

Aber Tolstoi ist ja nicht irgendeiner. Er wird damit nicht gemeint haben, Gott in der Tiefe zu kennen, ihn ergründen zu können. Ein Gott, mit dem man das machen kann, ist nicht Gott, ist jedenfalls nicht der Gott, den ich kenne.

Hoppla.

Gott kennen heisst vielleicht quasi seine Adresse zu kennen. Mehr zu wissen, dass er ist als wie er ist. Zu wissen, dass er da ist und wohlwollend zugeneigt. Zu ahnen, dass die Fragen des Lebens bei ihm am besten aufgehoben sind. Ihn jedenfalls nicht festzulegen auf das Bild, das von ihm zu machen ich versucht bin. Auch als Frommer.

Gerade als Frommer.

Das mit dem Kennen ist sowieso so eine Sache. Denn «wer meint, etwas erkannt zu haben, hat noch nicht erkannt, was Erkenntnis heisst.» Klingt nach Paulus und ist es auch. Eine Breitfront gegen intellektuelle Überheblichkeit und populistische Vereinfachung. Und weiter: «Wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt worden» (1 Kor 8,2-3). Ein Satz wie das Morgenrot! Dass ich Gott und mich selbst kenne, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass er mich kennt und ich ihn liebe.

In der Bibel steht «kennen» für viel mehr als nur das, was sich in meinem Kopf abspielt. Es geht um Beziehung. Mehr noch: es geht um eine Liebesbeziehung. Und das wirklich Abartige daran: Gott selber initiiert sie und macht sie möglich. (Und ja, ich schreibe diesen Artikel kurz vor Weihnachten, und Weihnachten ist der Ausdruck dieser göttlichen Zuwendung schechthin). Dass wir Gott lieben ist Antwort darauf und Folge davon.

Fast hätte ich geschrieben, «ist nur Antwort und Folge». Aber diese Antwort ist nicht «nur». Gott lieben ist alles, ist sicher mehr, als ihn kennen. Gott lieben ist Leben. Lieben ist mehr als Kennen. Ja, manchmal steht das Kennen dem Lieben sogar im Weg. Denn wer liebt, der kennt zwar schon, irgendwie, aber vor allem kennt er auch nicht, gibt sich nicht der Illusion hin, schon alles über den anderen zu wissen, sondern hört wirklich hin, weil es Neues zu erfahren gibt, und ist dabei nicht schon mit der nächsten Antwort und dem übernächsten Einwand beschäftigt oder wartet auf die Mikropause, wo man seine eigene Geschichte wieder einspielen kann, sondern hört und lauscht und neigt sich zu und fragt und gesteht sich ein, dass man manchmal verwundert ist, wie verzaubert.

Das ging mir heute durch den Kopf, als ich Max Frisch’s Tagebucheintrag las:

«Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er ist. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.»

Photo: www.frilloblog.com
Frisch-Zitat aus: Franz-Josef Bode, Zeit mit Gott: Ein Stundenbuch.



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