Lula Ann Bridewell nennt sich als junge Frau einfach Bride. Ihre zwei Vornamen hat sie längst abgelegt. Sie arbeitet in der Kosmetikbranche und hat in einem Konzern mit Milliardenumsatz ihr eigenes Label: YOU, GIRL. Irgendwann entscheidet Bride sich, nur noch Weiß zu tragen. Und entdeckt die vielen Schattierungen dieser Farbe: Reinweiß, Perlweiß, Elfenbein, Champagner, …
Ihr Freund Jeri hatte das empfohlen und gesagt, diese Farbe würde phantastisch passen, nicht nur wegen ihres Namens, sondern auch, weil das ihre Lakritzenhaut so wunderbar zur Geltung bringen würde. Es funktionierte. Und wie!
Wo ich auch hinkam, zog ich die Blicke auf mich, aber es waren nicht mehr die angewiderten Blicke, die ich aus meiner Kindheit kannte. Sie waren bewundernd, voller Verblüffung und Begehren (S. 44).
Jeri war es auch, der ihr von jeglichem Schmuck abgeraten, der ihr gesagt hatte, sie solle einfach sie selbst sein. You, girl! Diese zwei Worte waren schließlich die entscheidende Inspiration für ihr Label. Die Geschichte beginnt also mit einer stolzen und unglaublich schönen Bride.
Sehr schnell aber wird klar, dass irgendwas mit ihr nicht stimmt. Dass eine Sache aus der Vergangenheit ihr extrem zusetzt. Und zwar aus der Zeit, als sie noch die kleine ungeliebte Lula Ann und ihre schwarze Haut ein Makel war. So durfte sie zu ihrer Mommy nur Sweetness sagen. Sweetness, deren Haut sehr hell war, schämte sich mit diesem schwarzen Kind im Kinderwagen. Und ihr Dad hatte die Familie verlassen, da ihm ernste Zweifel an der Vaterschaft kamen. Dem Kind Lula Ann fehlen schließlich nicht nur Liebe und Zuwendung, sondern jegliche Form von Aufmerksamkeit und Respekt. Ein wenig von alldem bekommt sie allerdings, als sie im Prozess wegen Missbrauch gegen eine weiße Lehrerin aussagen muss. Ihre Mommy ist für ein paar Stunde sehr stolz auf ihr kleines Mädchen. Bis auch dieses Ereignis wieder verblasst.
Jene Lehrerin kommt nach 15 Jahren Haft auf Bewährung frei. Ihr Leben ist verpfuscht. Kindern darf sie sich in keinem ihrer Jobs mehr nähern. Bride besucht sie an deren ersten Tag in Freiheit in einem kleinen Motel. Sie wird brutal zusammen geschlagen von der weißen Frau, trägt schwere körperliche Verletzungen davon. Und das ist der Punkt, wo es zu einer spannenden Wendung in der Geschichte kommt.
Wir erleben, wie das Leben von Bride immer chaotischer wird. Was ist nur los mit ihr, denkt man, liest atemlos weiter. Warum macht sie keine Anzeige gegen Sofia. Warum hat ihr Freund sie mit den Worten Du bist nicht die Frau, die ich will verlassen.
Und dann beginnt ihr Körper, sich seltsam zu verwandeln. Ganz so, als würde sie wieder zu der kleinen Lula Ann werden – ohne Brüste, ohne jegliche Anzeichen von Weiblichkeit.
Sie befindet sich mittlerweile irgendwo auf dem Land, auf der Suche nach ihrem Freund. Und hier in Stille und Einsamkeit, wird ihr klar, wie sie die Dinge angehen muss, um wirklich selbstbestimmt und frei zu leben. Eine alte Schuld muss beglichen werden. Neue Türen öffnen sich.
Toni Morrison hat sich bei Gott, hilf dem Kind für einen eigenwilligen Erzählstil entschieden, der aber gut funktioniert. Manche Kapitel des Romans sind mit den Namen ihrer jeweiligen Protagonistinnen wie Bride, Brooklyn, Sweetness oder Sofia überschrieben und in der jeweiligen Ich-Form erzählt. Spätere Kapitel führen all diese Figuren und Handlungsstränge zusammen und sind mit einem Blick von außen erzählt. Dank dieser verschiedenen Perspektiven bekomme ich einen tiefen Einblick und ein besseres Verständnis für jede der – fast ausschließlich weiblichen und sehr starken – Figuren mit all ihren Fehlern und Schwächen. Eine großartige Geschichte über Mut und ehrlichen Umgang mit Gefühlen!
Es endet gut für Bride. Als ich schließlich den letzten schwarz gedruckten Satz auf dem weißen Papier lese, verspüre ich das tiefe Bedürfnis, Nina Simone und ihren grandiosen Song von 1965 Feeling good zu hören. Und das mache ich dann auch …
… It’s a new dawn. It’s a new day. It’s a new life.
Eine weitere Rezension bei leseschatz.
Toni Morrison. Gott, hilf dem Kind. Rowohlt Verlag GmbH. Reinbek bei Hamburg 2017. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. 204 Seiten. 19,95 €