Goldtropfen

Von Mondpoet @Mondpoet

Goldtropfen

 

In den oberbayerischen Alpen, genauer gesagt im Berchtesgadener Land ragt ein Hausberg namens Staufen empor. Sein Frontmassiv ist mehr als eindrucksvoll.

Vor vielen Jahren, als es die ihm nun zu Füßen liegende Stadt Bad Reichenhall noch nicht gab, lebte dort ein uriger Stamm. Dessen Anführer und Herrscher kam aus dem ersten Geschlecht, das diese wunderschöne Gegend kannte. Doch sein Gefolge plante schon seit langem, die Region Richtung Süden zu verlassen und somit weiter zu ziehen. Einfach, um in ein noch fruchtbareres Land zu gelangen.

Der König jedoch war so verbunden mit diesem Tal, dass er trotz Abraten seiner engsten Vertrauten und der Familie alleine am Staufen zurückblieb. Nach Jahren des Einsiedlerlebens hatte er es jedoch satt. Seine Einsamkeit wurde ihm überdrüssig und seine unsagbar vielen Schätze verloren für ihn an Wert.

Eines Tages jedoch hörte er vor seinem Haus, das knapp unterhalb des Gipfels lag, etwas sehr Seltsames. Er blickte aus einem der kleinen Fensterluken hinaus und traute seinen Augen nicht. Eine junge Frau ritt auf einem sehr schwer bepackten Esel in Richtung seiner Hütte. Schnell öffnete er die Türe und ging ihr schnellen Schrittes entgegen. Wie lange hatte er keine Menschenseele mehr hier oben erblickt. Als sie ihn kommen sah, lächelte sie.

„Ich bin die Botschafterin der Treue“, gab ihm das Fräulein zu wissen. Sie erzählte ihm, dass sie ihn für so eine gewaltige Heimatliebe belohnen möchte. Der Einsame hatte dagegen nichts einzuwenden und führte sie in seine Behausung. Währenddessen sah er noch, wie weiter unterhalb am Berg, dem so genannten Mittelstaufen ein kleines Feuer gerade am Verglühen war. Zwecks alledem schenkte die Frau dem ehemaligen König zwei Kinder und ließ pures Gold über den Reichenhaller Bergkessel regnen.

Durch die Jünglinge der beiden, die sich nun mit in Berchtesgaden, dem Nachbarort mit in ein paar Höfen lebenden Menschen zusammentaten, entstand langsam über die Jahre ein neues Bergvolk im schönsten Gebiet, das man sich nur vorstellen kann.

Nicht einer ihrer Nachfahren spielte auch nur einmal mit dem Gedanken, dieses Land je wieder zu verlassen. Der Kaser des einstigen Königs steht heute noch. Das Reichenhaller Haus am Hochstaufen überragt den gesamten Landkreis. Der Einsiedlerkönig selbst liegt in der Goldtropfenwand begraben. Wo seine zahlreichen Schatztruhen verblieben sind, ist ungeklärt. Diese Rinne ist das letzte sichtbare Überbliebene des damaligen güldenen Regens.

Jeder heutige Wanderer, der den Staufen durch diese steile Wand besteigt, fühlt während des Aufstiegs, in welch atemberaubend schöner Kulisse er sich befindet. Manche sagen, wenn man genau hinhört, kann man durch die Winde das zufriedene Atmen des Königs heute noch hören. Viele, die heute Bad Reichenhall besuchen, möchten am Liebsten nie wieder weg. Es ist der Geist der uneingeschränkten Liebe des Herrschers dieser goldenen Zeit.

Heimatliebe ist heutzutage wertvoller denn je. Manchmal gibt es in der Stadt unter dem Staufen kleinere Erdbeben. Es sind die heimatlichen Rufe des Königs. Nach jeder dieser Erschütterungen, die nicht heftig sind, blicke ich hinauf zur Goldtropfenwand. Es kommt mir vor, als würde das edle Metall immer noch hinunterfließen. Hinab ins Tal, um der Reichenhaller Bewohner Liebe noch mehr zu vertiefen.