Looking at photo
Am heutigen Tag gibt es ein weithin unbeachtetes Goethe-Jubiläum zu feiern: Nämlich exakt vor 10.000 Wochen (bzw. 70.000 Tagen) ist Johann Peter Eckermann in Goethes Leben getreten!
Da mit diesem Ereignis weiland die endgültige Apotheose Seiner Banalität Johann Wolfgang des Goethlichen eingeläutet worden ist, ist es genau der richtige Anlass, dem Nationaldichter mal so richtig eins reinzuwürgen mal ein paar Worte über diese spezifische Goethesche Banalität zu verlieren.
Gleich vorweg: das Genialste an Goethe war wohl, dass er alle Welt (bis heute) glauben gemacht hat, er sei der größte deutsche Dichter. Das ist bekanntlich Unsinn. Hölderlin schrieb bessere Gedichte, Schiller schrieb bessere Dramen, Kleist schrieb bessere Essays, E.T.A. Hoffmann schrieb bessere Romane. Das alles wäre egal, ja es wäre vollkommen bedeutungslos, wenn Goethe dafür eine umso radikalere künstlerische Haltung, einen unerbittlichen Ausdruckswillen, einen krassen ästhetischen Ansatz gehabt hätte. Er hatte ihn leider nicht.
Das heißt, er hatte ihn in seiner Jugend. Die frühen Erlebnisgedichte & Prometheus & Götz & Werther sind das beste, was er je gemacht hat. Doch spätestens in Italien hat er jegliche Haltung abgelegt und sich stattdessen etwas anderes angezogen: ein Image.
Looking at false brick
Es gibt diesen Blog, „Kim Jong-Un looking at things“, wo man den Diktator bei diversen Besichtigungsterminen in Nordkorea sehen kann. Die Fotos sind lapidar untertitelt mit „looking at waterslides“, „looking at a packed parachute“, „looking at tomatoes“, „looking at a closet door“, „looking at plans for a pickled fish processing station“.
Kim Jong-Un erweist sich als der gute Landesvater, indem er sich all diese Sachen anschaut. Goethe erweist sich als der große Dichterfürst, indem er sich zu all diesen Sachen äußerst, vom Barometer bis zum Propheten Mohammed, von der Bestimmung des Menschen bis zu bunten Zierfischen, und all diese Äußerungen, die kaum kompetenter sind als die kritischen Augen Kim Jong-Uns, als Gesamtkunstwerk namens „Goethe“ deklariert.
In Rom – genauer gesagt, in seiner Römischen Elegie Nr. 5 – entdeckte Goethe, dass er ein Klassiker ist. Fortan versuchte er gemäß dieser Erkenntnis zu leben. Derselbe Mensch, der gerade noch als Prometheus die Götter vom Thron stoßen wollte, richtete sich nun behaglich in ihrer Nähe ein. Goethe kannte nicht die verzehrende Sehnsucht eines Hölderlin, nicht den weltverbessernden Impetus eines Schiller, nicht den selbstzerstörerischen Trieb eines Kleist und nicht die Raserei eines E.T.A. Hoffmann. Goethe war eigentlich ganz zufrieden. Er war ein Heide.
Heide zu sein ist an sich nicht schlimm. Hans Henny Jahnn war auch Heide, und wenn ich einen Schriftsteller als Lieblingsschriftsteller zu nennen gezwungen wäre, dann wäre es Jahnn. Doch Jahnn war ein leidender, an der Welt zugrundegehender Heide. Er ist nichts weniger als ein Klassiker. Liebe ist bei ihm immer an Verletzung und Grausamkeit gekoppelt. Die Brutalität jener Kreatur, die er den „Schöpfungsfehler“ nennt, den Menschen, kennt keine Grenze. Doch gerade in diesem endlosen Strudel von Schmerz und Unvollkommenheit aktualisiert sich für Jahnn die Wirklichkeit, hinter der es keine Götter gibt. Es gibt keine Lösung, keine Erlösung. Es gibt nur die Welt. »Es ist wie es ist, und es ist fürchterlich«.
Goethe hingegen ist kein leidender, sondern ein froher Heide. Er ist ein Privilegierter, der die Welt für gut hält, weil er selbst auf ihrer Schokoladenseite gelandet ist. Er hat der Welt nicht viel mitzuteilen. Woher auch, sie ist ja eh weitgehend okay. Dafür hat er Selbstbewusstsein. Und ein Image. Beides zusammen macht ihn unsterblich.
Und hier kommt Eckermann ins Spiel. Er war für Goethe wirklich ein Gottesgeschenk. Ab 1824 musste der Dichter nur noch durch seinen Garten spazieren und Banalitäten absondern – Eckermann schreibt alles mit und bewahrt die Worte des Titanen für die Nachwelt. – »Als man Goethe morgens ein Butterbrot servierte, sprach er lange und tiefsinnig darüber und sagte zuletzt: ‚Wie sich Brot und Butter zu diesem Butterbrote zusammenfügen, so fügen sich auch in der Kunst gegensätzliche Elemente zum Vollkommenen.’«
So geht das seitenweise. Goethe talking about society. Talking about colours. Talking about Berlin dialect. Talking about female poets. Talking about the origin of mankind. Talking about elegant and comfortable furniture. Talking about the Bible. Talking about welfare. Talking about what makes a girl adorable. Talking about health. Talking about passion. Talking about theatre funding. Talking about the cuckoo.
Die künstlerische Entsprechung zu diesem Altherrengeschwafel ist der „West-östliche Divan“. – »Dieses Baums Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut, / Giebt geheimen Sinn zu kosten, / Wie’s den Wissenden erbaut.« – Dieses Meisterstück, dessen Rhythmus bereits im ersten Vers holpert, hat zu verantworten, dass in Weimar noch heute Ginkgo-biloba-Blätter zu überhöhten Preisen an Touristen verkauft werden. Talking about forking leaves.
Goethesche Banalitäten sind nur deshalb tiefe Weisheiten, weil sie von Goethe sind. „Ich war hier“-Grafitti auf Weltniveau. Ohne die Marke „Goethe“ wäre das unter seinem Namen überlieferte Konvolut wenig wert. Der Faust I, als Drama unausgegoren und dramaturgisch verkorkst, wird allseits geliebt, weil soviele berühmte Goethe-Zitate drinstehen. Der Faust II, als Drama unaufführbar und belanglos, wird allseits geliebt, weil er so überraschend anders ist als der berühmte Faust I des berühmten Goethe. Nie geht es um die Kunst, immer geht es um Goethe. Nirgends wird das deutlicher als in einem Gedicht aus dem „Buch Suleika“, dessen letzte Strophe lautet:
Du beschämst wie Morgenröte
Jener Gipfel ernste Wand,
Und noch einmal fühlet Hatem
Frühlingshauch und Sommerbrand.
Obwohl das Reimschema im restlichen Gedicht ABAB ist, reimen sich „Morgenröte“ und „Hatem“ nicht. Was aber reimt sich auf „Morgenröte“? – Vielleicht… „Schiller“? „Hölderlin“? „Kleist“? Oder doch etwa….. ja, ganz genau!! Hier ist er wieder, unser Held. »In tausend Formen magst du dich verstecken, doch, Allerliebster, gleich erkenn ich dich…«
Goethes Narzissmus ist so grenzenlos, dass ich, um es ihm gleichzutun (und damit nebenbei die Verkürbissung abzuschließen), nun sogar aufs Niederdeutsche ausweichen muss:
Goethe wird schon lütt und lütter,
Flink wie Wachs schmilzt der Titan,
Und mit Freuden setzet Hatem
Einen Blogartikel dran…