Giacomo Raffaelli (1753-1836): Kopie des “Abendmahls” von Leoardo da Vinci. Wien, Minoritenkirche.
Nach dem langen Follett nun ein kurzer Goethe. Da ich durch eine Sendung des „Büchermarkts“ (Deutschlandradio Kultur) auf Rüdiger Safranskis neues Buch über Goethe wieder Lust auf Goethe-Lektüre bekam, nahm ich mir den Band 12 der Hamburger Ausgabe zur Hand und schlug ihn willkürlich auf. Zu Tage kam ein Aufsatz über Leonardo. Ein Blick in den Kommentar ergab, dass der Text nur ein Teil eines etwas längeren Aufsatzes über Leonardos „Abendmahl“ und dessen Kopien ist. Ich suchte ihn mir also sowohl in der Artemis- wie auch in der Münchner Ausgabe heraus und las ihn.
Verfall des Originals – Geschichte einer Kopie
Es geht darin eigentlich nicht nur indirekt um Leonardos Werk, denn der eigentliche Gegenstand des Aufsatzes sind die Zeichnungen, die der Italienische Künstler Giuseppe Bossi (1777-1815) kurz nach 1800 von einigen Köpfen von Leonardos Abendmahl anfertigte, und zwar als „Durchzeichnungen“ nach einer Kopie des Abendmahls. Etwas vertrackte Situation. Die sich aber aus dem damaligen Zustand des „Cenacolo“ erklärt: Das Bild befand sich um 1800 in einem dermaßen beklagenswerten Zustand (mehrfach wenig sachkundig übermalt, die Wände von Überschwemmungen feucht, der Saal jahrzehntelang als Stall missbraucht, usw.), dass zu befürchten stand, das Bild werde nicht zu retten sein. Also bestellte Eugène Beauharnais, der Vizekönig von Italien, 1805 bei Bossi und dem Mosaizisten Giacomo Raffaelli (1753-1836) eine Kopie im Originalformat, aber in einer ungewöhnlichen Technik: Mosaik. Ausgeführt wurde das Mosaik aufgrund des von Bossi angefertigten Kartons in den Jahren 1810 – 17. 1818 kaufte es Kaiser Franz I., und es wurde schließlich in die Minoritenkriche von Wien verbracht, wo es bis heute zu sehen ist. (Deshalb war diese Kirche auch schon zweimal Ort einer Leonardo-Ausstellung.)
Bossi schrieb knapp vor seinem Tod auch noch ein Buch über seine Leonardo-Forschungen anlässlich des Abendmahl-Auftrags. 1817 gelangte bei einer Italienreise Großherzog Karl Augusts von Sachsen-Weimar das Buch und einige der vorbereitenden „Durchzeichnungen“ Bossis in den Besitz des Herzogs, der die Erwerbungen bald darauf in Weimar zur Schau stellte. Goethe war natürlich unter den ersten, die die Bilder zu sehen bekamen, und sie regten ihn dazu an, sich näher mit Leonardos Abendmahl zu beschäftigen, das er auf seiner Rückreise von Italien 1788 im Original gesehen hatte.
Goethe ist der Erste, der das Werk richtig würdigt
Resultat ist der vorliegende Aufsatz, der nicht nur Bossis Beschäftigung mit Leonardo referiert, sondern vorweg auch kurz Leonardos Abendmahl selbst genauer analysiert. Diese Analyse des Gemäldes ist nun der wichtige Teil des Aufsatzes, denn darin macht Goethe klar, welch epochale Leistung in der ganz neuartigen Gestaltung des Themas durch Leonardo liegt. Goethe war (lt. Kommentar Münchner Ausgabe, Bd. 11.2, S. 1067) der erste, der diese Leistung in voller Tragweite erkannte und darüber schrieb.
Tatsächlich bietet Goethe hier in aller Kürze eine ausgezeichnete Beschreibung dessen, was sich auf dem Bild tut.
Für mich waren aber auch andere Teile des Aufsatzes interessant, so die Beschreibung des Verfalls des Gemäldes und der Bemühungen mehrerer Kopisten, es auf dem Weg der Kopie zu erhalten. Interessanter Weise erwähnt Goethe zwar, dass Bossis Karton dann als Mosaik ausgeführt werden sollte („Eugen beschloß das, durch dreihundert Jahre durch, verdorbene Bild, so viel als möglich in einem neuen Gemälde wieder herzustellen, dieses aber sollte, damit es unvergänglich bliebe, in Mosaik gesetzt werden“, Münchner Ausgabe, Bd. 11.2, S. 422), sagt aber zur Problematik dieser doch ungewöhnlichen Übertragung in eine ganz andere Technik – nichts. Überraschend, dass dies auch dem Kommentator der Münchner Ausgabe keine Bemerkung wert ist. Allerdings konnte Goethe die Mosaikkopie ja nicht sehen, sodass sie ihn vermutlich kaum beschäftigt hat.
Übersetzung in neue Technik
Aus heutiger Sicht könnte man aber die Mosaikkopie mit neuen Augen sehen: Ist doch das – sehr kleinteilige – Mosaik geradezu eine „Übersetzung“ von Leonardos kleinteilig craqueliertem und abgeblättertem Gemälde. In meinem schönen Leonardo-Bildband von Daniel Arasse (DuMont, Köln, 1999) ist das Abendmahl auf einer ausklappbaren Tafel groß abgebildet, zusätzlich gibt es noch genauere Detailaufnahmen, auf denen man den Zustand nach der letzten Restaurierung sieht: In kleine Partikel zerfallene Farbreste, aus denen man nur mit Mühe irgendwelche Details erkennen kann. In der Minoritenkirche kann sich der Betrachter ein Bild davon machen, wie das Werk ausgesehen haben könnte, als es erst zu zerfallen begann…
Für mich ist die Lektüre dieses Aufsatzes doppelt anregend, da ich nicht nur grundsätzlich ein Leonardo-Fan bin, sondern gerade jetzt mit meiner zweiten Klasse als Klassenlektüre ein Jugendbuch über Leonardo lese und ich für die Klasse auch ein kleines Theaterstück über Leonardo schreiben will, das im Oktober aufgeführt werden soll. Da muss ich mich beeilen!
Johann Wolfgang Goethe: Giuseppe Bossi: Über Leonardo da Vincis Abendmahl zu Mailand. In: J. W. G.: Sämtliche Werke. Bd. 13: Schriften zur Kunst. Artemis-Gedenkausgabe. Artemis-Verlag, Zürich, und dtv, München, 1977. Seite 744-778. Bzw. in: J. W. G.: Sämtliche Werke, Bd. 11.2, Münchner Ausgabe, btb, München 2006. S. 403-437.