Das Leben geht gern mal verschlungene Wege und oft ist etwas ganz anders, als es aussieht – in Ingrid Zellers neuem Krimi „Gnadensee“ kommt beides, besser: „älles zamma“, wie man in Schwaben so sagt.
Lona Mende ist die einzige Tochter reicher Eltern – klingt an sich gut, ist es in diesem Fall aber nicht: Lonas Vater starb bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, der Täter wurde nie gefasst. Lona kam als Beifahrerin mit zwei gebrochenen Rippen und Gehirnerschütterung davon.
War das Verhältnis zu ihrer Mutter, schon vorher nicht von Herzlichkeit geprägt, wurde es nach dem Unfall noch unerfreulicher: zum einen bringt Lonas Mutter ihre Tage nur mehr mit Beruhigungstabletten hinter sich, zum anderen gibt sie ihrer Tochter die Schuld am Tod des Vaters.
Lona fühlt sich allein in ihrem Familienvilla-Appartement auf Reichenau und wird von Alpträumen geplagt. Ihr einziges Glück: die Beziehung zu Dirk Reisacher, mit dem Lona wohl die große Liebe gefunden hat. Ihre einzige Freundin: Andrea Strobl, die sie seit ihrer Jugend kennt.
Auch an Lonas 24stem Geburtstag ist es Andrea, die vormittags auf ein Glas Sekt vorbei schaut – den Abend will Lona mit Dirk verbringen. Doch sie wartet vergebens. Und wir Leser ahnen, warum:
in einem sehr spannenden, vierseitigen Prolog werden wir Zeuge eines brutalen Kidnappings und der Verdacht liegt spätestens an Lonas Geburtstag nahe, dass Dirk das Opfer ist. Klar, dass Dirks Verschwinden zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird und wir Leser machen uns mit Lona auf Spurensuche…
In Dirks Wohnung trifft Luna auf einen aggressiven Fremden, der behauptet Dirks Vater zu sein und Dirks Laptop mitnehmen möchte. Lona rettet sich und den Laptop und schaltet die Polizei ein.
Und sie lernt Dirks Schwester kennen, die nicht nur eine merkwürdige SMS von ihrem Bruder bekommen hat, sondern auch in Meersburg in einem Tattoo-Studio arbeitet, das – so viel kann ich gut verraten – ihrem mehr als undurchsichtigen Freund gehört.
Eine ganz heiße Spur führt schließlich nach Island, wo Lona sowieso ein paar Tage mit Dirk verbringen wollte. Weil Dirk immer noch verschwunden ist, fliegt Lona schweren Herzens mit Andrea nach Reykjavic.
Hier lernt sie den Bruder von Dirks bestem Freund Brynjar kennen und sie muss sich mit dem Gedanken auseinander setzen, dass Dirk mit Chrystal Meth zu tun haben könnte. Ist Dirks bester Freund ein Junkie?
Jetzt nimmt die Sache richtig Fahrt auf: zwischen Konstanz, Reichenau und Reykjavic, zwischen Familienvilla, Studenten-WG und Tattoo-Studio entwickelt sich ein nervenzerfetzender Kriminalfall, an dessen Aufklärung – und Vertuschung – die unterschiedlichsten Personen beteiligt sind.
Ingrid Zellner platziert die Mosaiksteinchen zum Gesamtbild in absolut perfektem Timing und schickt den Leser mitsamt Protagonistin auf eine emotionale Achterbahnfahrt der besonderen Art – mit dem einen oder anderen Looping zu viel:
der Plot ist spannend, kurvenreich, hochkomplex und gut choreographiert, da gibts gar nichts, allerdings ist die Ereignisdichte gegen Ende für meinen Geschmack etwas zu hoch, um noch realistisch zu wirken. Der Spannungsbogen ist stark genug, um auch ein paar Übertreibungen tragen zu können, ich habs allerdings schon leicht knacken hören. Konkret:
die Story hätte für mich ein, zwei Nebenschauplätze eigentlich nicht gebraucht um rund zu sein. Mir ist allerdings auch klar, dass ein Buch natürlich weniger Effektmöglichkeiten bietet als ein Fernsehkrimi – da muss es hier und da vielleicht ein bisschen „dicker“ kommen, um durchgängig fesselnd zu sein.
Im Fall von „Gnadensee“ ist der dramaturgische Parforceritt aber grundsätzlich gelungen. Ein außergewöhnlich oppulenter, vielschichtiger, dennoch klarer und nebenbei auch „junger“ Baden-Württemberg-Krimi. Lesenswert.
Ingrid Zellner „Gnadensee“, 320 Seiten, kartoniert, 12 Euro 90, Silberburg-Verlag