Glocken aus der Tiefe der Meere

Vineta ging unter, im wahrsten Sinne der Worte. Moralische Verfall, Hochmut und Verschwendungssucht waren hierfür Grund genug.

Der Vinetianer letzte Chance: Exakt drei Monate, drei Wochen, drei Tage und drei Stunden vor dem Untergang erschien die Stadt herself deutlich sichtbar über dem Meer. Mit all ihren schmucken Häusern, ihren hohen Türmen und festen Mauern – wie ein farbiges Lichtgebilde. Die Ältesten rieten hieraufhin, die Stadt zu verlassen, denn sehe man Städte, Schiffe oder Menschen doppelt, bedeute dies Untergang.

Doch die Vinetianer kümmerte das nicht – wohl aus Mangel an Demut. Niemand beachtete auch die aller-aller-allerletzte Warnung. Als nämlich die Wasserfrau auftauchte, die gütig-wohlwollende, um durch süße Harmonie die empörte See noch in letzter Sekunde gehorsam zu machen, und doch weiterhin unbeachtet blieb, auch dicht vor der Stadt, auch als sie schließlich dreimal mit hoher, schauerlicher Stimme rief:

“Vineta, Vineta, du rieke Stadt, Vineta sall untergahn, wieldeß se het väl Böses dahn”

Es kam, was kommen musste.

Und so, liebe Kinder, sind noch heute die Glocken Vinetas aus den Tiefen der Meere zu hören.

Mangel an Demut macht Glocken läuten, ich sollte mir das endlich einmal merken. ”Gier!”, ruft die Wasserfrau verächtlich. Was man doppelt sieht ist nicht doppelt. Es ist Soll und Haben der Lebensbilanz. Gewinn verrechnet sich oft mit Charakter. Ist Geld im Zähler ist Zeit im Nenner ~ alles verändert sich zwar, doch das Eine stets zulasten des Anderen.

Demütig bremse ich den Zug, noch bevor er den Bahnhof verlässt. und die Titanic-Bordkarte lasse ich verfallen. Besser jetzt als zu spät.


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