Der Glittertind war einst Norwegens höchster Berg. Heute ist er die Nummer zwei. Sein Schicksal und ein Tourentipp.
Endlich wieder Sonnenschein im Jotunheimen Nationalpark. Nach einem verregneten Vortag, an dem wir dennoch auf den Galdhøpiggen – Norwegens höchsten Berg – gestiegen sind, kündigt der Wetterbericht für heute beste Bedingungen an. Nebel, der sich bald lichtet, minimale Regenwahrscheinlichkeit und wolkenloser Himmel.
Wenn dir dein Minimalismus in den Arsch tritt
Gleich nachdem mich der Wecker aus dem Schlaf gerissen hat, öffne ich ein Fenster unseres Campingbusses, um mich zu überzeugen, ob die Vorhersage zutrifft. Vereinzelt späht der blaue Himmel bereits zwischen Nebelfetzen hindurch. Sieht gut aus.
Ich freue mich darauf, die Regenkleidung im Bus lassen zu können. Ich schlüpfe in meine leichte, lange Wanderhose und lasse die GoreTex-Jacke am Haken hängen. Ziemlich genau zwei Stunden später sollte ich diese Entscheidung bitter bereuen.
Beschwingt marschieren Markus und ich nach dem Frühstück los. Unser Ziel ist der Glittertind. Mit 2.464 Metern ist er der zweithöchste Gipfel Norwegens. Das war er nicht immer. Vor etwa 30 Jahren ragte er in ganz Skandinavien noch am weitesten in den Himmel. Diese Position hat ihm nun der Galdhøpiggen streitig gemacht. Warum, werden wir am Gipfel erfahren.
Wir wandern vom Ausgangspunkt Spiterstulen einen halben Kilometer talauswärts und steigen dann rechts den Hang hoch. Es ist früh am Morgen und sehr kühl. Die meisten Norwegern liegen noch in ihren Schlafsäcken. Büsche und Gräser sind nach der kalten Nacht mit Tau überzogen. Die Regenfälle der letzten Tage haben den Steig geflutet und Wasserfälle anschwellen lassen.
Nebel schiebt sich das schmale Tal empor, durch das sich der milchig weiße Fluss Visa schlängelt. Es ist still. Nur das Rauschen der Bäche, unsere Schritte und unser rhythmischer Atem sind zu hören.
Nach einer dreiviertel Stunde Gehzeit flacht das Gelände ab. Wir haben ein weitläufiges Plateau erreicht, dem wir Richtung Glitterheim folgen. Vereinzelt stehen auch hier Zelte in der Landschaft. Eine Gruppe von acht wärmt sich gerade gemeinsam in einem großen Kreis vor ihren Zelten auf. Sie kreisen Hüften und Arme und putzen sich gleichzeitig die Zähne. Bei dem Anblick müssen wir lachen. „Ihr müsst mitmachen“, fordert uns ein Mädel auf. „Wir sind schon warm gelaufen“, entgegne ich. Verrückt diese Norweger.
Bald kommen wir an eine Weggabelung. Rechts zweigt der Weg nach Glitterheim ab. Wir müssen uns links halten. Ein paar Kilometer geht es weiter flach dahin. Die Landschaft hier oben ist karg und gleichzeitig wunderschön. Knallig gelbe und grüne Flechten und Moose überziehen das dunkle Gestein. Rings herum wächst Gras. Es ist braun und kurz. Die wenigen Monate, in denen das Plateau schneefrei ist, reichen nicht aus, um das Gras üppiger wachsen zu lassen. Immer noch streichen Nebelschwaden über die Hügellandschaft. Der blaue Himmel zeigt sich aber schon öfter.
Über das Plateau fließen zwei größere Flüsse. Wir müssen sie überqueren. Mittlerweile finden unsere geschulten Augen schnell die beste Kombination aus verstreuten Steinblöcken, die es uns erlaubt, trocken ans andere Ufer zu gelangen.
Dann spüre ich den ersten Tropfen. Dann den zweiten. Sie kommen von oben. Das kann nicht sein. Wenige Sekunden später stehen wir im Nieselregen. Eine Minute darauf in einem Wolkenbruch. Völlig unvorhersehbar. Weit und breit keine Möglichkeit, sich unterzustellen. Felsen, so weit das Auge reicht. Keiner mit Überhang. Keine Bäume. Ich bin sofort klatschnass. Markus zieht seine Regenjacke über. Wieso hat er seine Regenjacke mit?! Weil er kein so furchtbarer Minimalist ist, wie ich es bin.
Was mach ich jetzt? Wir haben erst etwa die Hälfte des Weges hinter uns gebracht. Am Gipfel wird es eisig kalt sein. Und ich friere jetzt schon. Ich will den Glittertind unbedingt erreichen. Ich will aber auch nicht den restlichen Urlaub krank im Bett liegen.
Extrarunde am Glittertind
Wir beschließen, umzukehren. Als wir den Fluss erreichen, lässt der Regen etwas nach. Er staut sich nur im Talkessel, durch den wir aber auf jeden Fall durch müssen. Ich überlege, wie wir heute doch noch auf den Gipfel kommen könnten. Es ist noch früh. Wir könnten zurückgehen und es am Nachmittag wieder probieren. Zeit ist genug. Vor 23 Uhr wird es nicht dunkel. Aber Markus hat keine Lust, den Weg ein zweites Mal zu gehen. Gut, ich laufe. Du wartest hier, ich renn‘ zum Bus, zieh mich um und komm wieder hoch.
Ich sprinte den Weg zurück. Acht Kilometer im Blindflug nach unten. Ich muss mich zügeln. Umknöcheln wäre jetzt fatal. Ich könnte Markus nicht einmal Bescheid geben. Sein Handy hat im Regenwetter am Galdhøpiggen den Geist aufgegeben.
Nach 40 Minuten schließe ich den Bus auf. Ich schäle mich aus den nassen Kleidern, ziehe mir trockene über, wechsle auf meine leichten Trailrunning-Schuhe, stopfe die Regenjacke in den Rucksack und laufe zurück. Boxenstopp in Rekordzeit. Erneut 700 Höhenmeter und acht Kilometer. Nach nicht ganz zwei Stunden Abwesenheit torkle ich Markus entgegen, der am Plateau vergebens auf Sonne gewartet hat.
Jetzt aber – Glittertind ich komme
Wir setzen den Aufstieg fort. So, als wäre nichts gewesen. Gesprochen wird wenig. Wenigstens hat es aufgehört zu regen. Wir müssen einen weiteren, etwas tieferen Fluss überqueren und wandern jetzt auf einen steilen Bergrücken zu. Der Weg ist gut markiert und lotst uns hier hoch. Große und kleine Felsblöcke überziehen den Rücken. Bedingungen, die wir in den letzten Tagen oft erlebt haben. Wir machen schnell Höhenmeter. Der Blick nach oben verspricht aber nichts Gutes. Dichter Nebel versperrt uns die Sicht. Wir haben keine Ahnung, wo sich der Gipfel befindet.
Der Bergrücken scheint unendlich lang. Meine Füße kleben bei jedem Schritt am Boden. Sie sind verdammt schwer. Laut meiner GPS-Uhr befinden wir uns nur mehr 50 Meter unterhalb des Gipfels. Der Nebel hat uns jetzt vollkommen eingehüllt.
Nach einem weiteren kurzen Anstieg flacht der Weg nach rechts ab. Scheinbar ewig queren wir einen Hang. Immer noch kein Gipfel in Sicht. Zeig‘ dich doch endlich! Und dann treffen wir auf Schnee.
Der Glittertind ist auch im Sommer von einer riesigen Schneekuppe überzogen. Unter uns der Schnee, über uns der Nebel. Die Umgebung ist weiß in weiß. Wir können uns nur an den Fußspuren anderer Wanderer orientieren und stapfen in ihren Abdrücken weiter. Zu unserer linken Seite hängt eine mächtige Wechte über den Abhang. Bei Schönwetter muss es hier großartig sein.
Und dann glauben wir, den Gipfel erreicht zu haben. Etwas vom Rand der Wechte versetzt steckt ein mickriger Holzstab im Schnee. Kennzeichnet er den höchsten Punkt? Die Höhenangabe meiner Uhr scheint hinzukommen. Sie zeigt 2.462 Meter an. Versuch Nummer zwei hat mich von ganz unten in drei Stunden und 15 Minuten auf den Gipfel gebracht. Keine schlechte Zeit, wenn man die 700 Höhenmeter und 16 Kilometer Fleißaufgabe bedenkt. Streberin.
Herrliches Whiteout
Obwohl ich absolut nichts sehen kann, finde ich den Gipfel cool. Ich fühle mich hier auf eine komische Art willkommen. Der Wind bläst uns um die Ohren. Es ist eiskalt. Und dann, als würde uns der Berg belohnen wollen, lichtet sich der Nebel für fünf Sekunden. In der kurzen Zeit kann ich mich nicht entscheiden, wo ich mich hindrehen soll. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und blicke in das Tal vor mir. Ich sehe einen See. Gegenüber einen Gletscher. Dann fällt der Vorhang wieder.
Zwei Norweger stoßen zu uns auf den Gipfel. Wir quatschen kurz über das grässliche Wetter und wie uns der Berg so gefalle. „Wusstet ihr, dass der Glittertind mal der höchste Berg Norwegens war“, fragen sie uns. Ja, wussten wir. Wir sind uns einig, dass er es immer noch verdient hätte. Der Gipfel des Glittertind ist irgendwie spannender als der des Galdhøpiggen, seinem Thronerben.
Ach, ich bin euch ja noch das Schicksal des Berges schuldig. Nun, der Glittertind ist sozusagen geschrumpft. Die warmen Sommer und schneearmen Winter haben seiner Schneekuppe stark zugesetzt. Machtlos muss der Glittertind hinnehmen, dass seine Mütze immer kleiner wird.
Diese Tatsache macht mich traurig. Abgesehen von unseren Alpengletschern habe ich die Auswirkungen des Klimawandels noch nie so deutlich sehen können. Nachdenklich wandern wir den gleichen Weg zurück nach Spiterstulen. Um 20 Uhr lassen wir uns ins Bett fallen. Ich bin wirklich froh über meine Entscheidung, doch noch auf den Gipfel zu gehen. Markus meint, er wäre davon stark beeindruckt. So hätten sicher nur wenige gehandelt und das würde er mir hoch anrechnen.
Wie hättet ihr euch entschieden? Hättet ihr den Gipfel sausen lassen Wären euch die nassen Kleider egal gewesen? Oder hättet ihr es mir gleichgetan? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!
Tourdaten (ohne Extraeinheit)
- Höhenmeter: 1.360 hm
- Strecke: 18 Kilometer
- Dauer: 4 Stunden Aufstieg, 3 Stunden Abstieg
- Ausrüstung: Regenschutz, evtl. Steigeisen, falls die Schneekuppe stark vereist ist (wir haben darauf verzichtet)