Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 3: Das Goldene Zeitalter

Dies ist der zweite Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.
Der New Deal war um 1937 herum eine Erfolgsgeschichte, aber keine, die das System grundsätzlich aus den Angeln hob. Die Gehälter stiegen langsam wegen der massiven Zunahme der Gewerkschaftsmacht, die Wirtschaft erholte sich - hätte das aber wahrscheinlich auch in einer dritten Amtszeit Hoover getan - und die Arbeitslosenrate sank langsam. Sie betrug 1937, nach drei Jahren des Second New Deal, 14,3% - ein Tief nach dem Hoch von 24,9% im Jahr 1933. Im gleichen Jahr jedoch entstand im Kongress ein neues Bündnis. Die oppositionellen Republicans, denen die Idee der Staatseingreife ohnehin suspekt gewesen war, taten sich mit den konservativen Democrats aus dem Süden zusammen, die durch den Erfolg der aufstrebenden New Dealers verunsichert waren und in weiteren Reformschritten die bisher erfolgreich blockierte Grundrechtsgesetzgebung auf sich zukommen sahen (civil rights), die Schwarzen mehr Rechte und einen Anteil am beginnenden Wirtschaftsaufschwung zusprechen könnte. Diese neue Koalition tat etwas, das uns heute schmerzlich bekannt vorkommt: sie verabschiedeten einen Bundeshaushalt, der starke Einschnitte vorsah - vor allem bei den gerade erst angelaufenen New-Deal-Programmen. Wenig überraschend sprang die Arbeitslosenrate daraufhin wieder nach oben: 1938 betrug sie 19%, 1939 sank sie wieder auf 17,2%. Sechs Jahre nach Beginn des New Deal jedoch war diese eine enttäuschende Entwicklung. Die Progressiven im Kongress waren von dem legislativen Wirbelsturm, den sie seit 1934/35 entfacht hatten, erschöpft. Ihr politisches Kapital war aufgebraucht.
Wir müssen uns an dieser Stelle auch noch einmal klar machen, wie entscheidend in diesem Kontext der Zweite Weltkrieg sein wird. Nutzen wir einen sich aufdrängenden Vergleich von Franklin Delano Roosevelt vs. Barrack Hussein Obama - beide waren Progressive, kamen am Höhepunkt einer Wirtschaftskrise an die Macht und versuchten mit einer Super-Mehrheit tiefgreifende Reformen - so befinden wir uns jetzt im Jahr 2014. Das war das Jahr, in dem Obama müde schien, in dem seine Beliebtheitswerte im Keller waren und in dem die Republicans den Senat eroberten - und das, obwohl die US-Wirtschaft seit 2009 konsistente Wachstumsraten verzeichnet hatte und die Arbeitslosenrate bei gerade einmal 7,2% lag! Ich mache diesen Vergleich hier deswegen, weil Obamas Leistungen im linken Lager gerne kleingeredet werden, vor allem gegen das leuchtende Idol Roosevelts und des New Deal. Aber Roosevelt hatte 1939 weniger konkrete Ergebnisse vorzuzeigen als Obama 2014. Woher kam der Umschwung?
Die Antwort nach der geheimen Zutat, die stets gefehlt hatte, gab bereits Oskar Schindler: Krieg.
Im September 1939 entfesselte Deutschland mit einem Überraschungsangriff auf Polen einen Konflikt, der später als "Zweiter Weltkrieg" bekannt werden sollte. Damals war es ein lokaler Konflikt - zwar erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg, was ihre gesamten Kolonialreiche und Dominions mit in den Konflikt einband, aber bis 1941 blieb der Konflikt trotzdem klar europäisch definiert. Zudem vergisst die eurozentrische Perspektive gerne, dass Japan seit 1937 einen Aggressionskrieg gegen China führte, der die USA wesentlich mehr beschäftigte als das beginnende Nazi-Imperium. Was der Kriegsbeginn in Europa allerdings leistete war ein sprunghafter Anstieg des Bedarfs nach amerikanischen Waren, und damit ein fast zwangsläufiges Ende des protektionistischen Experiments. Zwar versuchten die Isolationisten im Kongress, die mehrheitlich, aber bei weitem nicht ausschließlich in der GOP organisiert waren, eine Anbindung der USA an die Geschickte der Weltpolitik und des internationalen Warenhandels so gut als möglich zu verhindern, was ihnen besonders auf dem Gebiet der Waffenexporte bedauerlich lange gelang. Aber Roosevelt erwies sich als wesentlich findiger im Umgehen der legislativen Hürden, die seine Gegner im Kongress ihm aufbauten, als diese es im Errichten derselben waren, und der Druck der Wirtschaft, die gerne gute Geschäfte mit Großbritannien machen wollte, tat ihr Übriges.
Doch auch interne Faktoren nahmen 1939 Druck von der andauernden Wirtschaftskrise: die Dürre, die besonders den Mittleren Westen mehrere Jahre in ihrem Würgegriff gehalten und zehntausende kleiner Farmer arbeits- und wohnungslos gemacht hatte, endete. Genau in dem Moment, in dem der Weltmarkt plötzlich einen vielfachen Bedarf an Agrarprodukten hatte, konnten amerikanische Anbieter - wo die großen Player die Reste der bankrotten Kleinfarmer aufgesogen hatten - nun liefern. Im Jahr 1940, als die Arbeitslosenquote auf 14,6% absackte, wurde angesichts des Zusammenbruchs Frankreichs und der gestiegenen japanischen Aggression die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und der Staat begann, die Wirtschaft auf Krieg umzustellen. Das war eine Form der Staatsintervention, die keine Kongressmehrheit blockieren wollte. Das Jahr markierte auch sowohl den Höhepunkt als auch den Anfang vom Ende für die Isolationisten. Ihre Bewegungen schrumpften, ihre Abgeordneten verließen den Kongress, bis Pearl Harbor 1941 den Resten der Bewegung den Todesstoß versetzte.
Der am Horizont dräuende Krieg, dem sich Amerika würde auf Dauer nicht verschließen können, hatte daher für den New Deal drei wesentliche Effekte. Der erste war, dass der Staat in einem nie gekannten Ausmaß ins Wirtschaftsleben einzugreifen begann. Da wir hier von den USA sprechen, waren die Eingriffe immer noch auf die Makro-Ebene beschränkt, überließ man so viel wie möglich dem freien Spiel der Kräfte. Roosevelt rekrutierte den verdienten General-Motors-CEO William Knudsen als Koordinator der Wehrwirtschaft. Dieser überzeugte Roosevelt, die Wirtschaft nicht auf einen Schlag, sondern Stück für Stück auf Kriegswirtschaft umzuschalten. Zuerst würden die USA die Kriegsgegner Deutschlands (ab 1941 auch zunehmend die Sowjetunion) mit allen möglichen Waren AUSSER Waffen beliefern. Stück für Stück würden die Firmen dann neue Kapazitäten aufbauen, PARALLEL zu der bisherigen restlichen Industrie.
Das war deswegen so bedeutend, weil im Gegensatz etwa zu den Nazis, die mit ihrer dirigistischeren und rücksichtsloseren Wirtschaftspolitik kurzfristig gewaltige Produktionssteigerungen zu entfesseln in der Lage waren, die amerikanische Aufrüstung nicht an die Substanz ging. Wo die Nazis ihre eigene Wirtschaft zugrunde richteten und die Franzosen und Briten (die Sowjets und Japaner sowieso) in geringerem Umfang dasselbe taten, beendeten die USA den Krieg mit einer gesunden Wirtschaft, die eine solide Basis für weitergehendere Vollbeschäftigung legte. Europa würde zwei Dekaden brauchen, um dasselbe Ziel zu erreichen.
Das zweite war, dass der plötzliche Bedarf an Arbeitskräften den Arbeitern ein ungeheures Druckmittel an die Hand gab. Die neu entstehenden Rüstungsfirmen wollten die best-qualifizierten Arbeiter, und sie bezahlten entsprechend. Das war für die Arbeiter kurzfristig natürlich gut, aber die hohe Fluktuation bereitete den Unternehmen massive Probleme - und gab dem Argument der Gegner des New Deal, die mächtigen Gewerkschaften zurechtzustutzen und die gerade erst gewonnenen Arbeitnehmerrechte wieder einzudampfen, großzügig Nahrung.
Das dritte war, dass Roosevelt angesichts der außenpolitischen Krise die schon lange gehaderte Frage, ob er für eine dritte Amtszeit antreten solle, mit einem "Ja" beantwortete. Dieser Antritt erlaubte eine wesentlich größere personelle und politische Kontinuität für den New Deal als es ein potenzieller anderer demokratischer Nachfolger Roosevelts hätte leisten können, von einem Sieg des republikanischen Herausforderers Wendell Wilkie ganz zu schweigen. Zwar hatte Roosevelt die Innenpolitik mehr oder weniger abgegeben - er konzentrierte sich überwiegend auf die Außenpolitik - aber seine Leute machten weiter.
Als die Japaner die USA dann mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor in den Krieg zwangen, war das Land strukturell zwar immer noch nicht bereit - Roosevelt hätte gerne noch zwei oder drei Jahre als "arsenal of democracy" die kriegführenden Mächte unterstützt, ohne selbst Kriegspartei zu werden - aber die Grundlagen waren solide genug. 1942 verdreifachte der Kongress die Militärausgaben; die Arbeitslosigkeit war, unter anderem wegen dem Wehrdienst vieler junger Männer, auf 4,2% abgesunken und erreichte 1943 die Marke von 1,9%. Wer nicht im Krieg war, arbeitete - und arbeitete hart. In der offiziellen Erinnerung konzentriert sich alles auf die Soldaten, die Omaha Beach erstürmten, aber in der US-Kriegsindustrie starben zwischen 1941 und 1945 mehr Arbeiter an Unfällen als auf den Schlachtfeldern Europas.
Die US-Wirtschaft erreichte aus ihrer Talsohle in den 1930er Jahren heraus ein ungekanntes Niveau. Nicht nur führten die USA einen totalen Krieg auf zwei völlig verschiedenen Kriegsschauplätzen mit einem ungeheuren materiellen Niveau (den Leistungen der amerikanischen Logistiker kann man gar nicht genug Anerkennung zollen), der Lebensstandard der Zivilisten sank auch nicht drastisch ab und zudem versorgten die USA auch noch drei Verbündete und, ab 1943, die besetzten Länder Europas mit Nahrung, Gütern und Waffen. Die völlige Erschöpfung der europäischen Alliierten, die umfassenden Zerstörungen und die schlichte Tatsache, dass ein Teil Europas feindliches Gebiet war, das besetzt und versorgt werden musste, garantierten eine weitere Abhängigkeit Europas von den USA in einem Ausmaß, das Zeitgenossen von 1919 mehr als befremdlich vorkommen muss.
Nichts desto trotz war es das Gespenst von 1919, das den Progressiven die meisten Kopfzerbrechen bereitete. Damals war die Nation aus dem siegreich beendeten Krieg direkt in eine fürchterliche Depression gerutscht, als die demobilisierten Veteranen keine Arbeit fandne und die schlechte Wirtschaftslage in Europa keinen guten Absatzmarkt für US-Güter bot. Beide Faktoren mussten unbedingt verhindert werden, damit auf den Sieg in Europa und im Pazifik nicht der große Katzenjammer folgte. Hierfür verabschiedeten die New Dealers zwei zentrale Gesetzeswerke.
Das eine war das bekannte europäische Aufbauprogramm, das unter den Namen "Marshall-Plan" legendär werden würde. Mindestens ebenso bedeutend wie die propagandistisch überhöhten Direkthilfen war jedoch, dass die USA de facto darauf verzichteten, dass ihre Alliierten die Kredite aus dem Krieg in irgendeiner substanziellen Form zurückzahlten. Das war bereits seit 1941 klar gewesen, wurde nun aber konkrete amerikanische Politik. Kaum etwas hatte den Kreislauf von Reparationen, Inflation und schließlich deflationärer Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren so sehr angeheizt wie die harte amerikanische Politik, die auf Rückzahlung aller Kriegskredite bestand.
Das andere war für die USA und das beginnende sozialdemokratische Zeitalter die entscheidende Wegmarke: die GI Bill. Dieses Gesetzeswerk, für das noch einmal die ganze Größe der alten New-Deal-Koalition mobilisiert wurde, erlaubte es den zurückkehrenden GIs, sich kostenlos an Colleges, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen fortzubilden. Hunderttausende von Kindern aus der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse erhielten zum ersten Mal Zugang zu höherer Bildung. Zudem subventionierte der Staat in gewaltigem Ausmaß den Erwerb von Eigenheimen, was die Grundlage für den Aufstieg der Vororte ("Suburbia") mit ihren gleichförmigen, großzügigen Einfamilienhäusern war. Mit einem Schlag definierten sich die USA als Mittelschichtsgesellschaft neu.
Doch wie bereits in anderen New-Deal-Programmen wurde die Zustimmung der konservativen Südstaatler mit einer Exklusion der Schwarzen von den Segnungen dieses Programms ausgeschlossen, ebenso Frauen und viele andere Minderheiten. Der neue amerikanische Sozialstaat war ein Sozialstaat für verheiratete weiße Männer, und wer in dieses Ideal nicht passte, konnte am neuen Wohlstand nicht teilhaben.
Zudem führte, wie so häufig, Zufriedenheit über das Erreichte zu Nachlässigkeit. Die Gewerkschaften, ohnehin angeschlagen vom "Verrat" "ihres" Präsidenten, der ihre Rechte im Krieg beschnitten hatte, erlitten 1947 einen weiteren, schweren Schlag. Der Anführer der oppositionellen Republicans, Howard Taft, verabschiedete mit Erfolg (und erneut den Stimmen der konservativen Democrats des Südens) den Taft-Hartley-Act, der die Rechte der Gewerkschaften empfindlich beschnitt und ihnen einige ihrer mächtigsten Werkzeuge wie das Streiken für politische Zwecke, das Verhandeln für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder und das Verpflichtend-Machen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ("closed shop") nahm. Eine große Rolle spielte hier der rasant zunehmende Anti-Kommunismus, mit dem der New Deal mehr und mehr als "un-amerikanisch" diffamiert wurde. Die anhaltende Vollbeschäftigung und hohen Löhne sorgten jedoch dafür, dass der Aufschrei überraschend gering ausfiel.
Zwar war die demokratische Mehrheit auf dem Papier immer noch so mächtig wie die Jahre zuvor. Doch die offene Feindschaft der konservativen Südstaaten-Democrats sorgte dafür, dass Trumans Spielraum in Wahrheit wesentlich kleiner war. Der Präsident forcierte das Thema: 1949 forderte er einen Fair Deal als Nachfolger zum New Deal. Der Fair Deal enthielt nicht nur weitere arbeitnehmerfreundliche Regeln, sondern, entscheidend, auch eine Bürgerrechtsplanke: ein Verbot von Lynching, eine Eingrenzung von Jim Crow und Zugang der Schwarzen zum Sozialstaat. Der Fair Deal wurde zu einer Pleite. Er führte nicht nur zur Spaltung der Partei - zahlreiche Rassisten verließen die Partei und formierten sich um Strom Thurmond in einer neuen Partei, ehe sie über die nächsten Jahrzehnte langsam in der republikanischen Partei aufgehen und diese bis 1968 in ihrem Wesenskern transformieren würden - sondern auch zur Wahlniederlage der Democrats 1952. Zum ersten Mal seit 20 Jahren zog ein Republican ins Weiße Haus ein.
Wir haben Dwight D. Eisenhowers Haltung zum New Deal bereits untersucht. Er war kein Fan, aber er machte sich auch nicht daran, das Projekt auseinanderzunehmen. Stattdessen waren die 1950er Jahre eine Phase konservativer Konsolidierung des New Deal, der das Programm für alle Seiten akzeptabel machte und die beiden Parteien so nahe zueinander brachte wie nie zuvor oder danach in ihrer Geschichte. Entscheidend hierfür war, dass alle Beteiligten die gleiche Mentalität besaßen: Es war ein Glaube daran, dass eine progressive Regierung (progressiv hier im Sinne von "auf die Zukunft ausgerichtet") in der Lage war, diese Zukunft zu planen und aktiv zu gestalten. Es war ein allgemeiner, technokratischer Machbarkeitsglaube, der all diesen Männern (und es waren alles Männer) zu eigen war.
In Europa vollzog sich zu dieser Zeit eine ähnliche Entwicklung. In der neugegründeten deutschen Bundesrepublik setzten sich die USA-orientierten Marktwirtschaftler wie Eucken und Erhardt durch, die versuchten, den konservativen Sozialstaat Bismarcks mit der freiheitlichen Marktwirtschaft der USA zu verbinden. Das Ergebnis war der Sozialstaat. Wie in den USA auch umfasste er einen großen Teil der deutschen Bürger, aber nicht alle: ein Fakt, das sich für die Bundesrepublik noch zu einem ernsten Problem ausweiten würde. Von seinen Segnungen ausgenommen waren sowohl Kinder beziehungsweise deren Eltern ("Kinder kriegen die Leute immer", sagte Adenauer berühmt-berüchtigt schnoddrig) als auch Frauen (wie in den USA profitierten sie implizit durch ihre Ehemänner; Singles waren auf sich allein gestellt (man verzeihe das Wortspiel) und, ab den 1960er Jahren, die Gastarbeiter.
Einen etwas anderen Weg ging Großbritannien, wo es stärkere Gewerkschaften und eine sozialistischer ausgerichtete Labour-Party gab, die den Ton angaben. Die Briten verließen sich mehr auf staatlich gesteuerte Wirtschaftselemente und einen vergleichsweise großzügigen Sozialstaat, doch dieses Projekt war die gesamten 1950er und 1960er Jahre hindurch dadurch behindert, dass die Briten mehr schlecht als recht ihr Kolonialreich abzuwickeln und dabei eine Weltmacht zu bleiben versuchten. Erst, als sie diese Aspirationen in den 1960er Jahren aufgaben (und damit auch die völlig überzogenen Militärbudgets) und alle Verantwortung an die USA abgaben, begann auch in Großbritannien derselbe sozialdemokratische Aufstieg, der in den USA, Frankreich und Deutschland passiert war.
Frankreich seinerseits hatte mit Großbritannien das Problem der außenpolitischen Abenteuer und des Versuchs, sich an den Kolonien festzukrallen, gemeinsam. Es hatte allerdings den entscheidenden Vorteil, zu seinen Bedingungen eine ökonomische Partnerschaft mit Deutschland eingehen zu können: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Keimzelle der späteren EU.
Alle europäische Länder, allen voran die BRD, profitierten jedoch maßgeblich von den neuen außenpolitischen Verwicklungen der USA, vor allem dem Koreakrieg, der die USA zwang, entweder ihre Rolle als Supermacht aufzugeben oder effektiv den Kriegshaushalt des Zweiten Weltkriegs auch im Frieden beizubehalten. Bekanntlich entschieden sie sich für zweiteres, was eine Öffnung ihres Binnenmarktes erzwang und den europäischen Ländern die Chance eröffnete, das Wirtschaftswunder der USA aus dem Krieg - die Versorgung anderweitig gebundener Volkswirtschaften - zu wiederholen.
Es sollte an dieser Stelle offenkundig geworden sein, dass er Erfolg des New Deal und sein Export nach Europa keine zwangsläufige Entwicklung, sondern eine Folge vieler Glücksfälle waren (so sehr man beim Zweiten Weltkrieg eben von einem Glücksfall sprechen kann). Stattdessen waren die ersten Maßnahmen weitgehend verpufft, und auch der Second New Deal war 1937 zwar mit durchschlagenden Reformen am Start, sah sich jedoch einer Reihe von Gegnern gegenüber, die drauf und dran waren, ihn zu sabotieren.
Was den New Deal rettete - und überhaupt erst zu einem durchschlagenden Erfolg statt einer langsamen, aber stetigen Erholung der Wirtschaft im Muster der Obama-Jahre machte - war eine massive Intervention des Staates, die die Bedinungen für die Arbeiter schuf, an einem selbst erzeugten Nachfrageboom teilzuhaben, und ein Weltmarkt, der genau zu diesem Zeitpunkt Bedarf für die so geschaffenen Kapazitäten und Waren aufwies. Dieser Glücksfall für das sozialdemokratische Projekt trat nicht nur einmal für die USA 1939-1945 auf, sondern auch noch einmal für Europa, beginnend ab 1950.
Die Folgen waren dieseits wie jenseits des Atlantiks durchgreifend. Ich habe bereits die Mentalitätsveränderung der Eliten angesprochen, die von Männern mittleren Alters dominiert waren, die über eine technische Ausbildung und eine technokratische Machermentalität verfügten. Sie hatten die vorherigen (im Schnitt älteren) Honoratioren abgelöst. Diese Entwicklung fand ihr Gegenstück in den Vorstandsetagen der großen Unternehmen und in den Gewerkschaften. Dadurch ergaben sich starke Anreize für kollektives Handeln, etwa in Streiks (seitens der Arbeiter) und Tarifverhandlungen. Die so entstehenden korporatistischen Strukturen gaben Zeit ihres Bestehens, gefördert von einem stetigen Wachstum bei annähernder Vollbeschäftigung, beiden Seiten genügend Anreize für Abschlüsse, die für jeden etwas dabei hatten. Ähnlich verfuhr auch der Staat bei seinen Reformwerken, soweit es möglich war: letzten Endes wurden politische Konflikte häufig durch großzügige "Reform"pakete übertüncht, besonders in föderalistischen Staaten wie Deutschland oder den USA, in denen so ineffektive und aufgeblasene Bürokratien entstanden, die in der kommenden Krise problematisch werden würden.
Aber auch in der breiten Gesellschaft ergaben sich dadurch Veränderungen. Wir haben zu Beginn über den Anstieg des Lebensstandards gesprochen. Es war in den 1950er und 1960er Jahren, dass die gesamten Segnungen des technischen Fortschritts in der breiten Bevölkerung ankamen. Kühlschrank, Eisschrank, Telefon, Elektrizität, Heizung, Flugreisen, Discounter, Einkaufszentren, Autos, Motorroller, industriell hergestellte und günstige Kleidung, Möbel, Nahrung und andere Waren des täglichen Bedarfs - hätte man die Steigerung des Lebensstandards zwischen 1870 und 1970 vorherzusagen versucht, es wäre albernste Utopie gewesen. Selbst die größten Sozialisten am Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich den kapitalistischen Lebensstandard im Goldenen Zeitaler der Sozialdemokratie nicht ausmalen.
Dieser Lebensstandard allerdings war uniform. Suburbia war zwar der Wunschtraum der breiten Bevölkerungsmehrheit, aber gleichzeitigt, wie die berühmte Folk-Sängerin Malvina Reynolds sang, "boxes made of ticky-tacky" ("Schachteln aus Kitsch"), die aneinander aufgereiht dastanden, wo Nachbarn eifersüchtig über die Größe der Rosenzäune wachten. Es gab zwar quantitativ viele Waren, mehr als man sich vorher je hatte erträumen lassen, aber eine große Auswahl an solchen gab es nicht. Um 1950 herum existiert eine ungeheure Einheitskultur. Ein oder zwei Radiosender spielten Klassiker und Schlager. Auf dem einen verfügbaren Fernsehkanal liefen Sendungen, die dem männlichen Hausherrn gefielen. Die Mode war dieselbe, ob der Träger 15, 35 oder 65 war. Autos kamen in verschiedenen Farben, aber kaum in verschiedenen Ausprägungen. Urlaubsorte waren voller Pauschal-Hotels und -Vergnügungen. Das Essen war tiefgefroren von einheitlichen Anbietern.
Das ist überzeichnet, gewiss. Aber nicht viel. Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie war auch ein Zeitalter einer ungeheuren Einförmigkeit des Lebens, die auf nicht wenige Menschen - vor allem die junge Generation - erdrückend wirkte. Das waren Luxusprobleme. Auch früher hatten fast alle Menschen dieselben eingeschränkten Konsumoptionen gehabt, nur waren damals alle gleich arm gewesen. Jetzt war man Mittelschicht. Die Generation, die diese Gewinne zwischen 1933 und 1953 erkämpft hatte - erkämpft im wahrsten Sinne des Wortes - war damit zufrieden. Sie war konservativ und genoss, was sie hatte. Ihre Kinder dagegen sahen das anders.
Wie in allen diesen Entwicklungen stellten die USA einen Leuchtturm dar. Die Entwicklungen begannen dort, aber sie schwappten mit etwas Verspätung über den Atlantik. Das war keine Selbstverständlichkeit. Viele amerikanische Entwicklungen waren vor 1945 in Europa nicht angenommen, teils sogar heftig bekämpft worden. Anti-Amerikanismus war eine Dauererscheinung im politischen Spektrum Europas, hinter dem sich Links und Rechts vereinigen konnten (ich habe das hier beschrieben). Die beginnende amerikanische Konsumkultur etwa war in Kaiserreich wie Weimarer Republik (bei den Nazis sowieso) erbittert bekämpft worden.
Doch ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs ließ die Polarisierung zwischenden beiden Supermächten den Europäern auch gar keine andere Wahl mehr, als die Trends nachzuvollziehen, die von jenseits des Großen Teichs kamen. Großbritannien und Frankreich mussten beide in den 1950er Jahren schmerzlich erkennen, dass ihre Großmachtallüren ein Relikt waren, das sich nicht mehr aufrechterhalten ließ. Die ökonomischen und politischen Bindungen an die USA machten den Versuch, sich gegen den amerikanischen Kulturimperialismus zu stellen, aussichtslos, denn anders als der sowjetische Kulturimperialismus WOLLTE die Bevölkerung der jeweiligen Staaten ihn mehrheitlich. Besonders die Jugend war höchst angetan von der beginnenden Jugendkultur, die aus den USA herüber kam, und selbst der verstockteste Reaktionär wollte die Segnungen der Angebote des Wohlfahrtskapitalismus nicht missen.
Das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie war demzufolge ein Zeitalter der starken Gruppenidentitäten. Die Familie als Kern, darumherum die Belegschaft in der Fabrik, die Kirche, die Partei und die Gewerkschaft prägten das Zugehörigkeitsgefühl. Wer zu diesen Gruppen gehörte, hatte vollen Zugang zu den Segnungen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats. Auf beiden Seiten des Atlantiks waren dies vor allem verheiratete, vollzeiterwerbstätige weiße Männer, die in den 1960er Jahren langsam in den Herbst ihres Lebens gingen. Ihre Kinder wurden erwachsen und hatten kein Gefühl für den ungeheuren Fortschritt, den ihre Lebensleistung erbracht hatte.
Eine neue Generation besuchte die Universitäten und kam mit radikal neuen Ideen in Berührung. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gab es eine Jugendkultur, eine Mischung aus kulturellen und marktwirtschaftlichen Angeboten, die sich explizit an Jugendliche und junge Erwachsene richtete und die ältere Gesellschaft ausschloss. Die traditionelle Familie geriet durch ihre eigenen internen Widersprüche unter Druck. Frauen und ethnische Minderheiten wurden immer frustrierter über ihre anhaltende Exklusion aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Diese gärende Unzufriedenheit kochte in den 1960er Jahren an die Oberfläche - und stürzte die Sozialdemokratie in eine tiefe Krise.

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