ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« 609 • 8. Februar 2013
von Walter G. Goes (Bergen/Rügen)
Zwischen Walt Whitman und Thomas Brasch hat der Autor und legendäre DDR- Poesiealbum-Begründer Bernd Jentzsch die Ungaretti-Ausgabe mit der Nummer 88 im Jahr 1975 in der DDR platzieren können. Sie war ein Ereignis wohl nicht nur für angehende Lyrik-Freunde! Und der Erwerb zum Gegenwert von nur neunzig Pfennig macht mich heute noch sprachlos.
Übrigens, als Aufmacher versehen wurde die heute gesuchte Broschur mit einer raffiniert ins Auge springenden Umschlagvignette, des für seine literarischen Ambitionen bekannten Berliner Zeichners Dieter Goltzsche. Diese zeigt als aquarellierte Zeichnung auf schwarzem Grund eine Hand, die wundersam einstimmt auf die fragmentarische Kraft der nachfolgenden 29 Gedichte.
Die Publikation stellte einen Dichter vor, dessen Arbeiten in knappster Form »vom Vergangenen und von der Zukunft« sprachen, dessen Worte so gesehen Zusammenhänge poetisch zu erhellen wussten und minimalistisch Strophen bildeten, die auch nach Jahren und Jahrzehnten diesseitig blieben.
Wer konnte wie Giuseppe Ungaretti den Herbst bereits im Sommer so genial anrufen? Sein frühes Vier-Zeilen-Gedicht »Soldaten« hat er im Wald von Courton, im Juli(!) 1918, mitten im Toben des Ersten Weltkrieges, in folgende neun Worte gefasst: »So/wie im Herbst/am Baum/Blatt und Blatt«
Was für ein prophetisch-poetisches Bild, das mit so wenig Wortmaterial das Schicksal von Soldaten im Krieg benennt. Lyrik wird Kriege nicht verhindern können, auch wenn Lyrik fataler Weise Kriege oft genug besungen hat. Gedichte, auch die von Ungaretti, geben keine Anleitung zum Handeln und dürften auch nicht als Leitfaden für Verweigerungshaltungen taugen.
Aber… ein gutes Gedicht kann einen Menschen zum Nachdenken anhalten, ihn sensibilisieren für sein Tun, so, dass er sich selbst erleuchten kann am Morgen: »durch Unermessliches« … »Und plötzlich nimmst du/die Fahrt wieder auf/wie/nach dem Schiffbruch/ein überlebender/Seebär«. ARTus