Jeden Morgen pendelt Rachel mit dem Zug in die Stadt, und jeden Morgen hält der Zug an der gleichen Stelle auf der Strecke an. Rachel blickt in die Gärten der umliegenden Häuser, beobachtet ihre Bewohner. Oft sieht sie ein junges Paar: Jess und Jason nennt Rachel die beiden. Sie führen - wie es scheint - ein perfektes Leben. Ein Leben, wie Rachel es sich wünscht. Eines Tages beobachtet sie etwas Schockierendes. Kurz darauf liest sie in der Zeitung vom Verschwinden einer Frau - daneben ein Foto von "Jess". Rachel meldet ihre Beobachtung der Polizei und verstrickt sich damit unentrinnbar in die folgenden Ereignisse ...
NICHTS IST, WIE ES SCHEINT
Nach dem großen Erfolg von "Gone Girl" erlebt eine ruhigere und psychologischere Version des Thrillers Hochkonjunktur - dem Leser werden immer wieder Brocken der Vergangenheit zugeworfen, die er dann, stetig rätselnd, zusammenzusetzen versucht. Nichts ist, wie es scheint, niemandem scheint man wirklich trauen zu können. Gemischt mit einer düsteren und undurchsichtigen, aber sehr dichten Atmosphäre bekommt man so ein faszinierendes Leseerlebnis geliefert, bei dem man sich stellenweise nicht sicher ist, ob man gelangweilt oder absolut gefesselt ist. Eben diesem Genre würde ich "Girl on the train" zuordnen, ein Buch, das einen großen Hype erfahren und mit einer gut besetzten Verfilmung auch auf die Kinoleinwände gekommen ist. Mir hat das Buch überraschenderweise viel Spaß gemacht und trotz kleinerer Längen für einige spannende Momente gesorgt.
Zugegeben: ein bisschen Zeit muss man dem Buch schon geben. Die Geschichte definiert sich vor allen Dingen über die seitenweise aufgebaute Atmosphäre, die dafür in jeden Winkel kriecht und sich über das komplette Geschehen legt. "Girl on the train" spielt Katz und Maus mit dem Leser und lässt ihn über viele Dinge im Ungewissen, nur um prekäre Details später auszupacken und auf den Tisch zu legen. Besonders bemerkenswert ist die schwierige Protagonistin Rachel, die zu eben diesem Phänomen beiträgt. Durch ihre labile psychische Situation, auf die ich hier aber nicht näher eingehen möchte (wg. Spoilergefahr), ist es schwierig, ihr zu trauen - geschweige denn ihre Beweggründe nachzuvollziehen. Rachel ist wohl das, was man eine Antiheldin nennen würde - und als Leser fällt es schwer, sie wirklich sympathisch zu finden, geschweige denn, ihrem Urteilsvermögen zu trauen. Doch auch das sorgt dafür, dass die Figurenkonstellationen nur noch interessanter werden, schließlich ergeben sich aus diesem Konzept einige schwierige Situationen.
EIN INTENSIVES KATZ-UND-MAUS-SPIEL - ATMOSPHÄRISCH DICHT UND TIEFGEHEND
"Girl on the train" ist generell sehr auf die Psyche der verschiedenen Figuren angelegt, sodass die Handlung selbstverständlich sehr figurenbasiert ist. Auch hier steht das Buch einmal mehr zwischen zwei Polen: es passiert nichts - im Sinne von ausufernden Handlungen oder Action - und es passiert viel - im Sinne der Entwicklungen und Erkenntnisse der Figuren. In jedem Fall trifft man auf allerhand menschliche Abgründe und wenn man sich darauf einlässt, wickelt einen diese intensive Atmosphäre ein wie ein Mantel - und lässt den Leser bis zum Ende nicht los. "Girl on the train" ist für mich daher ein intensiv-spannender und psychologisch basierter Thriller, der zwar seine Zeit braucht, dafür aber umso mehr unter die Haut geht und noch lange im Kopf bleibt.