Das war noch einmal eine echte Steigerung unten in Südafrika, wo die besten Abwehrreihen der Welt angetreten sind, den Abwehrweltmeister im Fußball zu ermitteln. Liefen bislang alle Mannschaften mit vier Verteidigern und zwei defensiven Mittelfeldakteuren auf, schickte Mordkoreas Volksbefreiungsgeneral Kim Jong Hun gegen Brasilien gleich eine von drei defensiven Kräften verstärkte Fünfer-Abwehrkette auf den Rasen. Und die Festung hielt, fast eine Stunde lang, weil auch die einstigen Zauberer vom Zuckerhut es inzwischen vorziehen, die Offensive zugunsten einer verstärkten Verteidigung zu vernachlässigen.
Szenen, die prototypisch für eine Weltmeisterschaft stehen, der drei Tage nach der ersten verheerenden PPQ-Analyse nun auch die ersten Leitmedien bescheinigen, allenfalls Spaß zu machen wie die WM im Hofkehren. Elfenbeinküste gegen Portugal, Holland gegen Dänemark - nur aus den Ansetzungen weht noch ein Hauch Fußballanarchie, eine Ahnung der rassigen Rasenschlachten vergangener Zeiten. Damals liefen Mannschaften mit zwei oder sogar drei Stürmern auf, das Mittelfeld war offensiv orientiert, Spiele gingen 3:1, 5:1 oder 4:2 aus.
In den südafrikanischen Stadien aber dröhnt heute nur noch die Langeweile: Die schwächeren Teams haben dank ihrer aus Serbien importierten oder wie im Fall Mordkorea mit Hilfe deutscher Riesenrammler selbst gezüchteten Trainerexperten gelernt, hinten diszipliniert zu stehen wie die stärkeren Landesvertretungen. Die stärkeren wiederum sind nun nicht mehr stark genug, den stahlbetonierten Verteidigungsreihen die taktische Disziplin auszutreiben.
Und alle sind topfit, zumindest bis zur 70. Minute, alle haben einen Psychologen dabei und ein Höhenluftzelt, alle tragen außerhalb der Stadien dieselben Anzüge, alle gleichen in den Pressekonferenzen den Abziehbildern auf den Sammelkarten, mit denen Panini seit Jahrzehnten versucht, junge Elternpaare wahnsinnig zu machen. Und alle suchen ihr Heil im alleinseligmachenden Konterfußball, alle spielen mehr Fehlpässe als Pässe, gleichen das aber nach hinten mit großer Laufbereitschaft aus. Alle sparen sich überdies überflüssige Torschüsse, solange der gegnerische Keeper keine Bereitschaft zum Fehlgriff andeutet. Ist es der Ball? Ist es das Tröten der heimischen Blasrohre? Ist es die Kälte? Sind es die rätselhafterweise trotz 97 Prozent verkaufter Karten häufig nur dreiviertelvollen Stadien? Noch sind die Stimmen leise, die solche Fragen stellen, noch sind es wenige Kommentatoren, die nach den Ursachen der regenbogenbunt bemalten Turniertristesse gehen.
Doch wenn der täglich über acht, neun Fernsehstunden bejubelte Jammer so weiter geht, wird es dabei nicht bleiben. Zu verheerend ist die Bilanz: Nach knapp einer Woche und insgesamt 14 Spielen verzeichnet das Gipfeltreffen der weltbesten Kicker mit dem deutschen Sieg gegen Australien ein Fußballspiel mit annähernder Weltklasse, mit dem Sieg der Argentinier gegen Nigeria ein weiteres Länderspiel auf Standardniveau und ein Dutzend Aufeinandertreffen mit dem Unterhaltungswert einer Beratungssendung für Stützstrumpfträger. Ballgeschiebe. Stolperei. Rasentreten. Noch sitzen die Millionen, vorgewärmt von einem Mediengewitter ohne historisches Vorbild, vor der Röhre, die ein 50-Zoll-Bildschirm ist, schon aber fragen sich die ersten: "Wofür steht das "Tod" in Todesgruppe? Für die Gefahr, an Überlangweilung zu sterben?"
Acht mal stand es in 14 Spielen zur Halbzeit 0:0, nur zwei Spiele hatten mehr als zwei Tore. Technokraten kämpfen sich über den Rasen, rational und effizient, ein einsamer Stürmer steht meist weitab vom Ball, selbst die einst genialen Brasilianer sind mit ihrem Latein am Ende, wenn sich der mordkoreanische Monsterriegel vor das Tor schiebt. "Das Spiel ist so spannend wie Briefmarkensammeln", berichtet ein Zuschauer, "ich schalte zum großen Zapfenstreich mit Hotte Köhler rüber, da ist die Musik besser."
Tore fallen weder hier noch da und schon gar nicht in Südafrika. War die Ausweitung der WM auf 24 Mannschaften anfangs noch Auslöser einer Zunahme an Unterhaltung, haben die Kleinen, die auf die große Fußballbühne eigentlich nicht gehören, inzwischen gelernt, nicht mehr ins offene Messer zu laufen. Sie treten seitdem nicht mehr an, um zu siegen, sondern um in Würde zu verlieren.
Das Ergebnis ist Zweckfußball, gegen den die Beobachtung des Wachstums von Zimmerpflanzen fast schon nervenaufreibend wirkt. Ein Trend, der sich schon bei der letzten EM andeutete, als die Diktaturen den Demokratien zeigten, wie ein Tor verteidigt wird. Diesmal ist es noch auffälliger: Die deutschen Treffer, erstmals seit 1990 erzielt ohne einen Teilnehmer aus den damals angeschlossenen Ostgebieten, und drei eklatante Torwartfehler herausgerechnet, gibt es bei der ersten Winter-Weltmeisterschaft knapp ein Tor pro Spiel, zieht man Tore nach Standardsituationen ab, bleibt eine Quote von unter einem Treffer pro Begegnung - nie zuvor gab es ein internationales Turnier, in dem weniger getroffen wurde.
Das ZDF hat unterdessen reagiert: Ins Logo integriert wurde ein sich langsam, sehr langsam drehender Fußball aus den 60er Jahren, als das Spiel noch Spiel war und nicht taktisches Schach mit elf Mannschaftsspielern. Man erhoffe sich, erfuhr PPQ aus dem Sender, dass sich der Zuschauer von der sich buddhistisch um sich selber drehenden Kugel einfangen und langsam hypnotisieren lasse. Dann, das hätten Untersuchungen von Fußballpsychologen im Vorfeld ergeben, könne auch ein Spiel ohne jeden Höhepunkt eine Art Genuß bringen, die sonst nur altgediente Zuschauer in der vierten Liga zu empfinden in der Lage seien.Wir sprechen zwar verschiedene Sprachen. Meinen aber etwas völlig anderes.