Gina und Marlowe

Leben mit nur noch zwei metaphysischen Fragen.

Gina und Marlowe

Links der Kater Marlowe. Der Rest
vom Fell nennt sich Gina.

Die Freude auf das neue Familienmitglied war groß. Einerseits. Ich rechnete durch. Andererseits. Was kostet uns dieser Kater, den wir Marlowe nennen wollten? Welche Unkosten macht uns Gina bislang? Und als ich so im Geiste vor mich hin kalkulierte, fragte ich mich noch etwas ganz anderes: Warum eine zweite Katze? Für was eigentlich? Was habe ich davon? Bringt es mir was? Ich ertappte mich dabei und zog diese Fragen zu einer einzigen Frage zusammen. Heraus kam etwas Zynisches: Welchen Profit habe ich eigentlich, wenn ich mir Katzen halte? Und plötzlich sah ich vor mir eine Bilanz, ich füllte die Sollseite aus, listete die Unkosten und Nachteile auf und haderte mit mir, weil die Habenseite so wenig Punkte aufwies. Überdies kaum welche, die direkten Vorteil versprachen.

An der Stelle brach ist beschämt ab. Ich wusste natürlich, dass das Halten eines oder mehrerer Haustiere nicht aufzurechnen ist. Das Lebensgefühl, das aus dem Zusammenspiel zwischen Mensch und Tier entsteht, kann man nicht in Zahlen ausdrücken. Trotzdem geriet ich, der ich für die allgemeine Kosten-Nutzen-Mentalität wenig übrig habe, in diese intellektuelle Sackgasse.
Der Kapitalismus hat uns Menschen mindestens zwei Jahrhunderte konditioniert. Erst nur bestimmte Schichten, Kaufleute und Händler vor allem. Später alle anderen. Seitdem der Bürger erstinstanzlich Kunde zu sein hat, geht diese Ausrichtung, die unsere Wahrnehmung auf Profitversprechen und Renditevorteile reduziert, bis in proletarische (und quasi-proletarische) Schichten hinab. Das ist unheimlich. Besonders unheimlich wird es allerdings, wenn sich an Alltagsereignisse die zwei Fragen knüpfen: Was kostet es mich? Und was bringt es mir?
Diese zwei Fragen als Motto kosten nicht nur Lebensqualität. Sie reduzieren ebenso das Zusammenleben zu einer Frage der Bezahlbarkeit. Natürlich gilt es darauf zu achten, wofür eine Gesellschaft und man selbst sein Geld verwendet. Aber wenn es die einzige Maxime ist, wenn es zum unangefochtenen Credo wird, dann gerät es zu einer Zwangshandlung. Wobei dieser Zwang auf alle Menschen zurückwirkt und die dann vom so genannten Sachzwang erniedrigt werden.
Klar, der Kater kostet nur. Er bringt mir nichts ein, was ich irgendwie stofflich erfassen könnte. Und ich weiß nicht mal so genau, ob ich einen "unsichtbaren Wert" von ihm habe. Er gibt mir auch nicht unbedingt Seelenheil. Und doch scheint seine Existenz an meiner Seite etwas zu sein, was mich bereichert. Hoffe ich jedenfalls. Spüre ich nicht immer. Es ist schwer zu erklären. Vielleicht sollte man das auch gar nicht in Worte fassen, um es nicht zu sehr durchdenken zu müssen. Man könnte einfach sagen: Er ist da - und das ist gut so. Wäre er jetzt wieder weg, würde er mir fehlen. Auch wenn er oft ein blödes Vieh ist.
Diese Erkenntnis geht so genannten Realpolitikern völlig ab. Sie begrenzen die Mittel und Vorstellungen, die eine Gesellschaft zum geregelten Zusammenleben benötigt, rein nach dem, was finanzierbar ist. Alles was darüber liegt, wird als Träumerei abgetan. Das wäre zunächst gar nicht verwerflich. Dass diese Leute aber auch noch ganz arrogant für vernünftig erklären, was bezahlbar ist und damit zunächst Unbezahlbares für unvernünftig, das ist besorgniserregend. Und dass man bestimmte Ausgaben scharf nach Kosten und Nutzen begutachtet, zum Beispiel das Gesundheitswesen oder die Unterhaltung von Menschen ohne Arbeit, das ist nicht nur beängstigend, das ist der Einstieg in eine Denkweise, die das Schlagwort vom "unnützen Esser" als Spitze dieser Perversion kennt.
Eine strikte Realpolitik ist daher abzulehnen. Ein gewagter Satz, denn wer dergleichen sagt, macht sich der Romantik verdächtig. Dennoch: Eine Politik, die sich nur im Rahmen von möglichen Kosten und daraus zu erzielenden Nutzen bewegt, steuert auf eine Katastrophe zu. Sie nimmt in ihrer unidealistischen und uninspirierenden Haltung in Kauf, dass Menschen den gesellschaftlichen Anschluss verlieren, dass sich menschliche Zivilisation als kalter Krieg vollzieht. Willy Brandt hat mal irgendwo gesagt: "Wo immer Du auch redest Genosse, zu wem Du auch immer redest, was immer Deine Aussagen sind, auch die Strengsten, die Kritischsten, am Schluss muss Hoffnung sein." Das trifft völlig zu. Politik muss Hoffnung sein. Die gängige Realpolitik, die uns bestimmt, verbreitet keine Hoffnung. Sie ist hoffnungslos hoffnungslos. Sie hat uns geprägt, den eigenen Alltag als einen Mikrokosmos von Entscheidungen anzusehen, den wir starr am Korsett von Was kostet es mich? und Was bringt es mir? ausrichten.
Es sind diese zwei Fragen, die die Metaphysik unserer neoliberalen Gesellschaft prägen. Alle andere Fragen sind ihnen untergeordnet. Nach Kant waren es noch die Frage nach dem "bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir"
(Kritik der praktischen Vernunft), das die Welt antrieb. Diese Fragen machten den Fortschritt aus. Alle anderen Fragen ergaben sich aus diesen zentralen Elementen der Metaphysik. Hätte Kant heute gelebt, er würde vermutlich Was kostet es? und Was bringt es? als die "zwei Dinge [die] das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht [erfüllen]" benennen. Wie sähe wohl der kategorische Imperativ aus, wäre er in einem Milieu entworfen worden, in dem es nur diese zwei Fragen gäbe?
Wir fragen uns derlei ganz unwillkürlich. Selbst als kritische Menschen. Wir kennen es nicht mehr anders. Auch ich nicht, deshalb erfreue ich mich zuerst nicht an einer zweiten Katze, sondern handle mir fast schon ein schlechtes Gewissen ein, weil ich mir "unnütze Kosten" ins Haus geholt habe.
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