Erweckungserlebnisse und “Gottesdienste”
Auch in der humanistischen Szene wird über das Thema kontrovers diskutiert. Im letzten Jahr sorgte eine Mitteilung des SPIEGEL für Verblüffung und bei manchen für Befremden, in der es hieß, dass immer mehr insbesondere junge Menschen in England aufgrund eines “Erweckungserlebnisses” zu Atheisten würden. Und in diesem Jahr war die Mitteilung über atheistische “Gottesdienste” Anlass für manche Irritation sowohl bei Gläubigen und Ungläubigen. Dabei ereignete bei dem “Gottesdienst” in London (in einer ehemaligen Kirche) nun rein gar nichts, was irgendwie als transzendentales Gebaren gewertet werden konnte: die dreihundert Versammelten sangen bei dem ersten Treffen gemeinsam das Lied “Don´t stop me now” der Rockgruppe Queen, ein Physiker referierte zum Thema “Wunder” über neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Teilchenphysik und es gab eine Kollekte zur Finanzierung der Miete für das Kirchengebäude.
Sinnsuche: “Gottlos, aber nicht sinnfrei”
“Gottlos, aber nicht sinnfrei” lautet das Motto der “Gottesdienste”, auf denen auch gemeinsam gelacht und gesungen wird.
In Deutschland sind es erst einzelne aus dem humanistischen Milieu, die eine Spiritualität ohne Religiosität nicht nur bejahen, sondern auch fordern, den “Modebegriff” Spiritualität für einen weltlichen Humanismus nutzbar zu machen. Einer der wenigen ist Dr. Dr. Joachim Kahl, der ausdrücklich formuliert, dass ein weltlicher Humanismus ohne spirituelle Dimension “armselig, steril und verkürzt auf Rationalismus” sei. Spiritualität bedeutet für ihn Geistigkeit, Geistorientierung, eine gemüthaft vertiefte, Verstand und Gefühl umfassende innere Haltung zur Wirklichkeit, die religiös oder auch nichtreligiös orientiert sein könne. Als intellektuell unredlich bezeichnet er Versuche, spirituelle Bedürfnisse mithilfe eines weit gefassten funktionalistischen Religionsbegriffes einer Gottessuche zuzuordnen, wo es “tatsächlich um eine Sinnsuche geht.”
Spiritualität allgemein menschliche Eigenschaft
“Die spirituelle Dimension gehört zum Wesenskern des Menschen”, so seine Grundauffassung. Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Sinn des Todes, dem Sinn der Natur, dem Sinn der Geschichte und dem Sinn der Welt würden von den Menschen von alters her gestellt und seien so aktuell wie je; in der Sinnfrage artikuliere sich ein spirituelles Bedürfnis, ein Verlangen, das Verstand und Gefühl umgreife; Menschen seien sinnbedürftige und sinnfähige Lebewesen. Das Leben des einzelnen empfange Sinn durch bewusste Teilhabe an einem übergreifenden Ganzen.
Hatte Dr. Kahl in diesem Jahr bereits auf dem Humanistentag in Hamburg seine Auffassungen zur nichtreligiösen Spiritualität einem größeren (humanistischen) Publikum vorgestellt, so hat er am vergangenen Sonntag in Berlin in der URANIA seine Ansichten gegen andere Vorstellungen von Spiritualität abgegrenzt.
Verschränkung von Rationalität und Emotionalität
Hierbei definierte er den Begriff einer atheistischen Spiritualität, wobei er zunächst darauf hinwies, dass heute Spiritualität “ein verbreiteter und schillernder Modebegriff (sei), meist gleichgesetzt mit vager Religiösität.In dieser gegenwärtigen Konjunktur spiegelt sich – entgegen einem ersten Anschein – der historische Niedergang der Religion.Sie getraut sich nicht mehr – selbstbewußt wie einst – im eigenen Namen und mit eigenem Wahrheitsanspruch, meist einem Offenbarungsanspruch, aufzutreten.” Man solle aber nicht Spiritualität widerstandslos einer religiösen Interpretation überlassen, denn “Spiritualität bezeichnet eine wichtige allgemein menschliche Ebene des Bewußtseins,die religiös oder nichtreligiös, eben weltlich-humanistisch, gefüllt werden kann. Zwei Hauptmerkmale definieren Spiritualität: – formal ist Spiritualität die Verschränkung von Verstand und Gefühl, von Rationalität und Emotionalität – inhaltlich ist sie die Verschränkung von Relativem und Absolutem. Anders gesagt: spirituelle Bedürfnisse und Fragestellungen beziehen sich – in gemüthaft vertiefter Form – inhaltlich auf die metaphysische Ebene der Wirklichkeit.”
Wobei Dr. Kahl erläuternd darauf hinweist, dass er nicht auf die “theologisch aufgeladene Spielart von Metaphysik” Bezug nehme, sondern auf den “ontologischen Metaphysikbegriff, der, angelehnt an Parmenides und Aristoteles, die unveränderlichen, absoluten Strukturen des Seins” bezeichne.
Verschränkung von Relativem und Absolutem
In einer weltlich-humanistischen Spiritualität trete an die Stelle des herkömmlichen religiösen Begriffspaares “Immanenz und Transzendenz” das Begriffspaar “Relatives und Absolutes”. “Alles, was Menschen erleben und erfahren, sind innerweltliche Vorkommnisse, die als solche nüchtern und demütig hingenommen und analysiert werden müssen, auf dass sie dann gegebenenfalls verändert werden können”, führte er aus und grenzte sich strikt ab von Transzendenz, von der es keine gäbe, “die diesen Namen verdient.” Zwar gehöre zum Menschsein “auch ein ständiges Überschreiten (= Transzendieren ) des jeweils Gegebenen. Aber der Übertritt in eine andere Welt ist noch nie gedanklich schlüssig als möglich erklärt worden geschweige denn irgendwo gelungen.”
Spirituelle Grundfrage sei, so Dr. Kahl, “die Frage nach Sinn und Wert unserer individuellen Existenz im Ganzen des Seienden, das durch Raum und Zeit und die Abfolge von Ursache und Wirkung determiniert ist. Absolut determiniert, aber unter jeweils konkret anderen , relativen Umständen, weshalb sich die Verschränkung von Absolutem und Relativem als das inhaltliche Hauptmerkmal von Spiritualität bezeichnen lässt. Die Meisterung der Alltagsspiritualität” bezeichnete er als “die hohe Schule weltlich-humanistischer Spiritualität.”
Menschliches Leben immer im Angesicht des Abgrundes
Eine Absage erteilte er sowohl spirituellen Ewigkeitserwartungen, wie sie im religiösen Gewand daherkommen, als auch einer sich spirituell gebenden “Sehnsucht nach Vollendung und Vollkommenheit”, einer Orientierung gewissermaßen auf eine vollkommene Welt. Aus der Erkenntnis, dass “menschliches Leben … immer Leben im Angesicht des Abgrundes (ist), nie jeglichen Risikos enthoben2 zieht Dr. Kahl die Konsequenz: “Die von mir favorisierte weltlich-humanistische Spiritualität arrangiert sich dagegen mit den strukturellen Unzulänglichkeiten dieser Welt auf stoisch-epikureische Art. Ihre Lebensfreude und ihr Ja zur Welt sind daher stets von einer melancholischen Hintergrundmelodie begleitet. Sie antwortet auf den universalen Verschleißcharakter aller Dinge und auf die tragischen Aspekte der menschlichen Existenz, Vorkommnisse und Probleme, die sich jeder Lösung verweigern.”
Stimme einer skeptischen Vernunft
Leben heiße immer auch Leiden, eine leidfreie Gesellschaft, eine schmerzfreies Leben, eine übelfreie Welt gäbe es nicht. Diese weltlich-humanistische Spiritualität sei die “Stimme einer skeptischen Vernunft, die allen Transzendenzsehnsüchten und Vollkommenheitsträumereien eine klare Absage” erteile: “Hierin wurzelt auch die melancholische Tönung dieser Spiritualität, die –unbeschadet aller Lebensfreude und Weltzugewandtheit – fest im Blick behält, dass das menschliche Dasein stets fragil und fragmentarisch ist, stör- und krankheitsanfällig, dem Verschleiß ausgeliefert und daher unaufhebbar sterblich.”
Reifestadium des Atheismus
Atheistische Spiritualität verortet Dr. Kahl im “Reifestadium des Atheismus”, der “die Stufe der puren Negation, der Religionskritik und des Antiklerikalismus hinter sich gelassen hat, ohne deren abgrenzenden und klarstellenden Wahrheiten zu vergessen.” In dieser Spiritualität sei ein atheistisches Element enthalten, das nicht als antitheistische Frontstellung missverstanden werden dürfe.
Der atheistischen Spiritualität fehle “jeder sakrale Bezug”. Ihr sei nichts heilig, gleichwohl verehre sie “ruhig und dankbar das Erhabene und Wunderbare der schöpferischen Natur, der ältesten Schule menschlicher Weisheit und Spiritualtität.” Und: weltlich-humanistische Spiritualität habe “Teil an jenem großen Prozess der Entzauberung der Welt. “Allerdings werde nur der illusionäre Zauber, der faule Zauber, den menschliche Phantasie und Unwissenheit seit Jahrtausenden in die Dinge hineingeheimnissen” entzaubert, nicht jedoch der “entzauberungsresistente reale Zauber, der der Welt als Ganzer innewohnt, einer Sommernacht oder einem Menschen innewohnen kann.”
Weltlich-humanistische, atheistische Spiritualtät ist grundlegend auf das Diesseits bezogen und bewertet dieses von einer Verschränkung von Verstand und Gefühl her, nährt keine Illusionen über ein imaginäres Jenseits, unterlässt Träumereien über ein kommendes Friedensreich und verspricht nicht ewige Glückseligkeit.
Es gibt keinen Grund, Spiritualität religiösen Heilsbringern und esoterischen Propagandisten zu überlassen – das wird aus den Ausführungen Dr. Kahls deutlich. Religiöse haben auf Spiritualität genauso wenig ein Monopol wie auf die “Begründung von Werten”. Ihnen sollte das Feld nicht überlassen bleiben. Rein intellektuelle Religionskritik reicht in einer Zeit, in der Denken in religiösen Begründungszusammenhängen immer mehr marginalisiert, nicht mehr aus. “Verkopfte” Negation sei zu wenig. Fragen nach Sinn müssen weltlich-humanistisch debattiert und geklärt werden, aber auch in gemüthafter Form erfahren (gewissermaßen gefühlt) werden können.
Walter Otte
Die wörtlichen Zitate sind dem Redemanuskript von Dr. Kahl vom 23.06.2013 entnommen.
Als Lektüre zu empfehlen sind auch Dr. Kahls Ausführungen zum Vorwort von Bertrand Russell zu dessen eigener Autobiografie 1947, die ebenfalls in gekürzter Form Gegenstand des Vortrags vom 23.06.2013 waren.
Zum Thema Spiritualität vgl. auch Thomas Metzinger, Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit.