NS-Zeit. Sali möchte auswandern und geht daher ins Reisebüro . Auf die Frage wohin, stellt der Angestellte des Reisebüros hat den Globus vor sich und fährt mit dem Finger von Land zu Land: „Auswanderung nach Palästina ist gesperrt, die amerikanische Quote ist bereits erreicht; Visum für England sehr schwer; für China, Paraguay und Brasilien braucht man finanzielle Garantien; Polen erlaubt selbst polnischen Juden keine Wiedereinreise.“
Der Jude deutet resigniert auf den Globus und fragt: „Haben Sie noch einen anderen Globus?“
Kurzum: Die Lage könnte besser sein. Europäische Länder, die vor 1938 noch entweder möglich, sicher oder sogar beides waren zeigten 1944 eine hässliche Fratze… Einreise unmöglich oder von den Nationalsozialisten besetzt. Frankreich war besiegt und geteilt, Österreich annektiert, Ungarn verbündet. Im kommunistischen Teil Europas war die Lage für jüdische Flüchtlinge nicht besser, sondern – wenn überhaupt – nur nicht schlechter.
Ungarn ab 1918 – die ersten antisemitischen Gesetze
Magyarország – wie Ungarn in der Landessprache heißt musste nicht erste „erobert“ werden. 1918, als der erste Weltkrieg vorbei war, einigten sich die Siegermächte in Trianon darauf Ungarn auf 1/3 seiner ursprünglichen Größe zu beschränken. Besonders gefreut haben sich die Magyaren nicht darüber und politisch näherte sich das Land langsam aber sicher an Nazi-Deutschland an. Die jüdische Bevölkerung war integriert und Teil der Gesellschaft, jedoch immer noch als Sündenbock zu gebrauchen, was 1920 in das erste antijüdische Gesetz der neuen Ära mündete. Ein Numerus Clausus an Universitäten für jüdische Studenten. Wirklich „Gebrauch“ konnte davon allerdings nicht gemacht werden, da die Juden in Ungarn keinen so großen Bestandteil der Bevölkerung ausmachte, wie das Gesetz einen glauben lassen wollte. 1938 – also noch vor der deutschen Okkupation beschränkte man den Anteil der Juden in den freien Berufen und der Wirtschaft auf 20 Prozent. Die Quote wurde im Mai 1939 auf 6 Prozent gesenkt und auch andere Gesetzen wurden nach deutschem Vorbild den Nürnberger Rassengesetzen angepasst.
Raoul Wallenberg
Jetzt möchte ich etwas vorpreschen. Wie in anderen Städten in Europa wurde auch in Budapest ein Ghetto errichtet. Dieses war auf der Pester Seite, wo sowohl die Dohány- als auch die Rumbach-Synagoge stehen – jedoch ist von den Mauern heute nichts mehr zu sehen… Da jedoch Ungarn „nur“ Verbündeter der deutschen Irren war, wurde das Ghetto erst verhältnismäßig spät geräumt – 1944.
Die Toten wurden doch für jüdische Verhältnisse etwas ungewöhnlich gewürdigt. In (christlichen) Städten Europas errichtet man bis ins späte Mittelalter die Friedhöfe in der Stadt um die Kirche herum – ein interessantes Beispiel ist die Michaelergruft in Wien – als man jedoch herausfand, dass Leichen die Trinkwasserqualität nicht gerade verbesserten stellte man dies unter Strafe. In der jüdischen Tradition liegen Friedhöfe – als unreine Orte – immer außerhalb der Stadt. Um das Gedenken an die Opfer des NS-Terrors nicht irgendwo Abseits in Vergessenheit geraten oder verschwinden zu lassen existiert in Budapest im Garten der großen Synagoge der einzige jüdische Friedhof im Zentrum einer Stadt.
Der jüdische Friedhof im Garten der Dohány Synagoge
Die Geschichte der Juden von Budapest/Ungarn kann man nicht erzählen, ohne einen bestimmten Namen zu erwähnen: Raoul Wallenberg. Er war damals Botschafter des neutralen Schwedens in Ungarn und wusste seine Möglichkeiten richtig (aus-)zu(-)nutzen. Er verteilte an ungarische Juden schwedische Pässe und rettete sie somit vor dem sicheren Tod. Insgesamt verdankten ihm 100.000 budapester Juden das Leben.
Dem faschistischen Regime war er ein Dorn im Auge, jedoch konnten sie ihm glücklicherweise nichts anhaben. Anders sahen das die kommunistischen Despoten. Für sie war seine gewaltsame Gefangennahme weniger problematisch. Das Letzte, was man über Raul Wallenberg weiß ist, dass er von den neuen Herrschern auf einen als Gefangener nach Moskau geschickt wurde – danach verliert sich die Spur. Von offzieller sowjetischer Seite wurde zunächst alles verleugnet, 1957 hieß es, er wäre 1947 im Militärgefängnis Lubjanka/Moskau an einem Herzinfarkt gestorben.
Bei dem Bau des Petschora-Dammes in der Region Workuta hat der Arzt Menahem Melzer sich an ein Gespräch mit einem Schweden namens Raoul Wallenberg unterhalten. Es gab ein exponiertes Lager namens Chalmer You, dessen Häftlinge beim Bau des eingesetzt wurden.
Raoul Wallenberg - heute bleiben nur Erinnerungen
Die Wahrheit kam weder durch politischen Druck – sofern man so etwas auf das kommunistische Regime im Osten ausüben konnte – noch durch das von Simon Wiesenthal, René Cassin Nobelpreisträger und der Vater der Menschenrechtskonvention und Arthur Goldberg, den früheren amerikanischen Justizminister und späteren Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen organisierten Raul-Wallenberg-Komitee ans Licht.
Auch das Wallenberg-Hearing 1981 brachte keine weiteren Informationen oder Zugeständnisse der Sowjetunion
Trotz des Untergangs des Kommunismus, Perestroika und Glasnost blieb auch der Nachfolgestaat Russland dabei, dass Raul Wallenberg im Militärgefängnis bei Moskau unter „natürlichen“ Umständen gestorben ist – sofern man mit 37 einem Herzinfarkt erliegen kann. Was tatsächlich aus ihm wurde, ist bis heute ungewiss.
Weitere Informationen hierzu findet man in „Recht, nicht Rache“ von Simon Wiesenthal.
Der Krieg
Doch zurück nach Ungarn in den 40ern des vergangenen Jahrhunderts.
Obwohl die Gesetze wahrscheinlich über mehr symbolischen Charakter als Vernichtungspotential verfügt haben ging die Strategie auf und Adolf Hitler zeigte Sympathien für die Trittbrettfahrernation. Doch in der Politik gibt es so etwas wie „freundschaftliche Dienste“ oder „Sympathien“ nicht wie im gesellschaftlichen Miteinander. Die Geschenke waren von Ungarns Teilnahme an der Russland-Offensive abhängig. Auf eine andere Art und Weise „abhängig“ waren die Ungarn von den neuen alten Gebieten, die ihnen Deutschland wieder zurückgegeben hat.
„Kriege mögen andere führen, du, glückliches Österreich, heirate“ lautete Wahlspruch Österreichs, mit dem es einmal die Welt erobert hatte. Kriege führen war in der Tat nie eine österreichische Disziplin. Das Handwerk des Kriegverlierens vererbte sich auch an die „Kindernation“ der Ungarn weiter. Glück haben sie den deutschen Truppen bei der Schlacht um Moskau nicht gebracht…
Das Labyrinth in Budapest
Bei der Schlacht um Woronesch wurden 150.000 ungarische Soldaten getötet, verwundet oder gefangengenommen. Als die Sowjetunion auf der Deutsche-zurückschlagen-Tour durch ganz Osteuropa war sollten die nationalsozialistischen Besatzer zeigen, wie viel ihnen daran lag eher ganz Budapest verwüstet zu haben als abzuziehen. Der Kampf um die ungarische Hauptstadt zwischen dem Dritten Reich und den neuen Eroberern aus der Sowjetunion sollte tatsächlich fast alles in Schutt und Asche legen – und nach Stalingrad das „härteste“ Kampf sein.
Ferenc Hoffmann -später bekannt als Ephraim Kishon- hatte es gemeinsam mit einem Freund geschafft aus einem Konzentrationslager der Nazis zu flüchten und war bei der Einnahme Ungarns durch die Sowjetunion so etwas ähnliches wie „frei“ – in seiner (übrigens sehr lesenswerten Auto-)Biographie schildert er, dass die Sowjets damals nach der Einnahme der Stadt versucht haben, Nazis einzufangen, um sie den angerichteten Schaden reparieren zu lassen. Jedoch wussten die faschistischen ehemaligen Besatzer, dass es das Klügste ist, von der Bildfläche zu verschwinden. Ungarn, die sich vor Freude über die „Befreiung“ auf die Straße trauten wurden von den neuen Besatzern als Nationalsozialisten gefangengenommen und in verschiedene Arbeitslager gesperrt. Ferenc Hoffmann ebenfalls – jedoch konnte er sich aus einem Transport „befreien“, indem er sich bei der Abreise schlafend gestellt hat und den weiteren Marsch in den Tod somit schlicht und einfach verpasst hat…
Budapest war also nur mehr ein zerstörter Schatten seiner selbst – die Deutschen, die sich lange in den Labyrinthen in den Bergen/Hügeln der Stadt versteckt gehalten hatten und somit auch die „Befreiung“ mit Gewalt und Gegengewalt verhindern wollten waren weg und die Fläche des Landes wurde wieder auf die Größe von Trianon verkleinert. Während Österreich und Deutschland durch Kapital aus den Vereinigten Staaten wieder aufgebaut werden konnten, verweigerte Moskau den Staaten des Warschauer Paktes Geld durch den Marshallplan entgegenzunehmen. Budapest wurde wieder aufgebaut – zwar nicht so schnell wie die vormals zerstörten Städte im Westen, aber immerhin.
Möglicherweise blieb den Ungarn in Erinnerung, dass es durch den Nationalismus 1848 zum Ausgleich mit Österreich gekommen ist und Ungarn zwar noch mit Österreich vereint, aber doch eine sehr beachtliche Größe vorzuweisen hatte. In der Zeit des Nationalsozialismus bekamen die Magyaren durch den Ersten Wiener Bescheid vom November 1938 die Ostslowakei zurück. Durch den Zweiten vom Dezember 1940 zog der alte ungarische Reichsverweser Miklós Horthy auf seinem Schimmel in Siebenbürgen ein. Insgesamt ein Gewinn von 85.000 km² mit 5 Millionen Menschen.
Europa existiert heute fast ohne Grenzen – und trotzdem bestärken Kräfte dieses ohnehin von Krieg und Diktatur geplagte Volk auf einer -möglicherweise gewaltsamen- Ausweitung des Territoriums. In meinen inzwischen vier Monaten hier habe ich die Ungarn und auch ihre manchmal seltsam anmutende Sprache schätzen und lieben gelernt und möchte vor einem letzten Schwenk nach Österreich noch einen Vers von Heinrich Heine frei und aus dem Zusammenhang gerissen wiedergeben:
Der Himmel erhalte dich, wackres Volk,
Er segne deine Saaten,
Bewahre dich vor Krieg und Ruhm,
Vor Helden und Heldentaten.
Und Österreich?
In Österreich verlief alles ein bisschen anders. Doch will ich weniger die Geschichte wiedergeben, wie man sie im Geschichts-Schulbuch findet, sondern eine Version, die sich wahrscheinlich nicht überall zu lesen findet. Österreich blieb nach dem ersten Weltkrieg was am Ende von der neuen Grenzziehung übrigblieb. Karl Renner und andere Mitglieder der österreichischen Delegation versuchten zwar Deutschsprachige Gebiete wie das Sudetenland, Südtirol oder Burgenland herauszuschlagen, scheiterten jedoch. Man erhielt lediglich mithilfe der slowenischsprachigen Bevölkerung einen Teil Kärntens „zurück“ und durch den Vertrag von Saint Germain immerhin das Heinzenland (später in Burgenland umbenannt) von Ungarn – jedoch ohne der möglichen Hauptstadt Ödenburg.
Nach dem Anschluss Österreichs lösten die deutschen Machthaber das leidige geographische Problem „kreativ“. Während man Rumänien um Siebenbürgen erleichterte um es zu Ungarn zu transferieren war das mit Südtirol und Italien nicht so leicht. Mussolini war immerhin so etwas ähnliches wie ein Verbündeter. Die Italiener hatten mit der deutschsprachigen Mehrheit in Südtirol keine rechte Freude, wollten das Land aber -verständlicherweise- behalten, das Deutsche Reich hatte mit den slowenischssprachigen Mehrheiten in Kärnten keine Freude, war aber vom Land ebenfalls angetan. Zuerst wurden die slowenischsprachigen Österreicher enteignet, deportiert und ermordet. Die Höfe überschrieb sich die NSDAP. Anschließend mussten Südtiroler Bauern ihr Gehöft verkaufen, um die „freigewordenen“ Immobilien in Südkärnten zu pachten. Richtig: „pachten“. Nicht „kaufen“ oder „geschenkt bekommen“. Die Höfe verblieben im Besitz der Nationalsozialisten und das Geld der Südtiroler Bauern sollte sich langsam aber sicher ebenfalls dorthin begeben. So hat – letzten Endes die NSDAP begonnen, das ihre Nachfolgerin die FPÖ weitergetrieben hat, um nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ die Kärntner Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen…