Gewiss ungewiss

Von Turnfieber

Neues Jahr, neues Glück – so sagt man doch. Was 2020 angeht, ist dieses Sprichwort aber ziemlich makaber. Wir sind wirklich positiv ins neue Jahr gestartet, keine Frage. Wir sind auch jetzt noch guter Dinge, zumindest bemühen wir uns. Aber alles hat gerade einen ziemlich negativen Beigeschmack. Wer hätte vor einer Woche gedacht, dass alle Kitas und Schulen für fünf Wochen schließen. Dass Cafés und Restaurants nur noch Speisen zum Mitnehmen anbieten? Dass das Kulturleben in Deutschland weitestgehend eingestellt wird? Dass auf einmal Homeoffice doch für den Großteil der Erwerbstätigen möglich ist? Dass man seine Mitmenschen meiden, ihnen nicht zu nahe kommen und sie bloß nicht anfassen soll? Wenn es dann doch passiert heißt es, ganz schnell Händewaschen. Aber nicht nur dann, 2020 ist gefühlt das Jahr des Händewaschens. Diese Maßnahmen schränken schon ziemlich ein. Sie sind nachvollziehbar, aber mindern die Lebensqualität. Es gibt jedoch eine Maßnahme, die mich sehr bewegt hat. Das ist die Einschränkung, dass bei Bestattungen nur noch zehn Personen anwesend sein dürfen. Würde meine Großmutter nun sterben, ich dürfte der Bestattung nicht beiwohnen. Diese Vorstellung trifft mich, obgleich derzeit kein Anlass zur Sorge besteht. Aber in Zeichen der Corona-Krise ist alles ungewiss.

Klare Regeln schaffen Struktur

Noch wägen wir uns in Sicherheit. Am Freitag war unser Sohn noch im Kindergarten. Das  Wochenende sind wir auf Spielplätzen rumgetollt, haben uns bei der Eisdiele ein Eis geholt und es im Park gegessen. Heute wäre das nicht mehr möglich. Die Eisdiele hat ihre Türen bis auf Weiteres geschlossen. Spielplätze dürfen nicht mehr genutzt werden. Das ist heftig, besonders für Kinder. Sie haben einen Bewegungsdrang, erst recht, wenn beide Eltern im Homeoffice arbeiten. Unser Sohn macht das gut mit, das haben uns fast zehn Wochen Homeoffice mit Kind im vergangenen Sommer gezeigt. Der Vater muss sich nun an „unsere“ Regeln anpassen. Unser Sohn ist da ziemlich streng. Was sicherlich daran liegt, dass ich im Sommer eine sehr klare Tagesstruktur vorgegeben habe. Jeden Tag derselbe Ablauf, das funktioniert bei uns gut. Der Kleine weiß, worauf er sich einzustellen hat.

Zusammen zu Hause

Es gibt aber entscheidende Unterschiede: Im Sommer haben wir jede freie Minute auf dem Spielplatz verbracht.  Waren in Cafés, sind durch die Stadt gebummelt oder waren beim Fußballtraining. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das alles nicht möglich. Aber immerhin dürfen wir noch raus. Um unserem Sohn den Alltag ein wenig zu verschönern, haben wir außer der Reihe ein Fahrrad gekauft. Mit dem saust er nun durch die Felder, der Spielplatz ist ja leider tabu. Schon morgens, bevor wir uns an unsere Schreibtische und er sich in seine Spielhöhle begeben, schnüren wir Eltern unsere Laufschuhe und laufen unserem Sohn als Pacemaker hinterher. In der Mittagspause stiefeln wir in den Wald, spazieren an Ziegen vorbei und rennen Berge herunter. Nach getaner Arbeit drehen wir noch eine Runde durch möglichst menschenleere Straßen mit oder ohne Gefährt. Mal schlendern wir zum Supermarkt, um unsere Schränke aufzufüllen, mal sind wir ziellos unterwegs. Unsere Devise lautet, so viel Bewegung in den Alltag zu integrieren, wie es nur geht. Zeit draußen zu verbringen, so lange wir noch dürfen.

Noch findet unser Sohn das toll. Feiert die Auszeit. Aber ihm sind die Ausmaße nicht bewusst. „Zum nächsten Spieltag, nehme ich meinen blauen Flitzer mit“, sagte er heute Morgen. Der ist aber frühestens in sechs Wochen, habe ich ihm erklärt. Beim nächsten Fußballtraining möchte er zwei Tore schießen, aber auch das setzt für unbestimmte Zeit aus. Wir wissen einfach nicht, wie es weiter geht. Das ist uns gänzlich unbekannt, dabei sind wir doch alle irgendwie Gewohnheitstiere.  

Unbekannter Alltag

Die Situation ist beängstigend. Wenn ich abends die Tagesschau sehe, kommt irgendwie eine fast apokalyptische Stimmung auf. Genieße ich tagsüber die ersten warmen Tage, halte meine Nase in die Sonne und freue mich über unseren radelnden Sohn, dann scheint die Welt irgendwie ziemlich in Ordnung. Es ist verrückt. Manchmal werde ich panisch, manchmal möchte ich doch loslaufen und Essensvorräte einkaufen, aber dann bin ich doch wieder gelassen, zuversichtlich und möchte darauf vertrauen, dass wir uns alle darum bemühen, die Ausbreitung des Virus zu verzögern.

Krise nutzen

Was wir machen, wenn auch uns der Ausgang versperrt wird, das weiß ich nicht. Nicht nur wegen unseres Sohnes, auch ich drehe täglich, egal bei welchem Wetter, meine Runden an der frischen Luft. Ich brauche das. Denke ich zumindest. Wenn es hart auf hart kommt, kann ich sicherlich auch mal ein paar Tage oder Wochen darauf verzichten. Dann lege ich eine Zwangspause ein. Versuche, die Zeit bewusst zu nutzen und nicht an ihr zu verzweifeln. Warum nicht einmal entschleunigen, sich darauf besinnen, was wirklich zählt und das auferlegte enge Familienleben zu genießen. Ich hoffe sehr, dass die Maßnahmen wirken, wir die Krise in den Griff bekommen. Und vielleicht können wir dann, auch wenn wir viele Verluste zu beklagen haben werden, aus dieser Zeit lernen  und das, was wir haben, ein bisschen mehr zu schätzen wissen.