Nach dem Frühstück schauen wir uns den Ortskern von L’Aquila an – und wandern erschüttert zwischen meterhohen Bauzäunen, Gerüsten, Warntafeln und Baukränen wie in einer Geisterstadt umher. In allen Gebäuden sieht man meterlange Risse, Balkone werden abgestützt, Fenster mit Holzrahmen verstärkt. Wir erahnen, wie der Horror der Katastrophe hier ausgesehen haben muss. Kein Haus ist mehr bewohnbar.
Das schwere Erdbeben vom 6. April 2009 um 03:32 Uhr Ortszeit veränderte L’Aquila und seine Bewohner für immer. Die meisten lagen friedlich in ihren Betten, als der gigantische Stoß der Stärke 6,3 die Erde erschütterte. Vor allem entlang der Via XX. Settembre waren schwere Schäden zu verzeichnen. Eine riesige Staubwolke bedeckte die Stadt: L’Aquila lag in Schutt und Asche (Die Zeit 7. April 2009). Am stärksten waren die Dörfer im östlichen Gemeindegebiet betroffen. 308 Menschen starben, rund 17.000 Menschen wurden obdachlos, viele Alte starben bald danach an Traumatisierungen.
Im Apennin verlaufen zwei Plattengrenzen. Erdbeben gab es daher in dieser Region immer wieder – so im Jahre 1315 oder anno 1703 (2.400 Opfer). Bei einem Erdbeben im Jahr 1786 kamen 6.000 Bewohner ums Leben, die Stadt wurde völlig zerstört. Auch 1915 und 1958 zitterte die Erde.
Die Horrornacht des 6. April 2009
Mehr als eine Milliarde Euro wurden bereits in die Renovierung gesteckt. Satelliten-Neubaustädte für 15.000 Menschen wurden am Stadtrand in Windeseile zu völlig überteuerten Preisen hochgezogen – Ohne Infrastruktur, ohne Einkaufsmöglichkeiten. Schon wenige Monate nach Inbetriebnahme tauchten die ersten Probleme wegen unsachgemäß verwendeter Baumaterialien, missachteter Brandschutzbestimmungen oder unzureichender Elektrik auf. Die Staatsanwaltschaft ermittelte. Staatspräsident Berlusconi weihte diese Neubauten stets medienwirksam ein: “Hier wurde ein wahres Wunder geschaffen!” Durch das von der Regierung weitgehend kontrollierte Fernsehen wurde so in ganz Italien der Eindruck erweckt, alle Probleme seien in Rekordzeit gelöst worden.
In Wirklichkeit konnten fünf Jahre nach dem Erdbeben nur 40 Prozent der ursprünglich 60.000 Obdachlosen in ihre Wohnungen zurückkehren. Regen, Schnee und Frost haben die beschädigten Gebäude weiter einstürzen lassen. Die Behörden haben die Altstadt – die kulturhistorisch zum Schönsten Italiens gehört – offensichtlich aufgegeben, sie arbeiten zu langsam, vertreten nicht die Interessen der Bürger. Kompetenzgerangel und Vetternwirtschaft bestimmen das Tempo. Der Schulunterricht findet bis heute in Containern statt. Womöglich ist ein erdbebensicherer Wiederaufbau zu teuer. Die Einwohner befürchten, dass das historische Zentrum von L’Aquila eine Geisterstadt bleiben wird. 2012 hat die Justiz sechs Seismologen zu jeweils sechs Jahren Haft verurteilt. Sie hätten 2009 ungenügend vor der Naturkatastrophe gewarnt. Ein Schauprozess zur Beruhigung?
[Mehr dazu in Berichten der tagesschau vom 6.4.2014 und vom 6.9.2014 und des Schweizer Fernsehens SRF (Video aus 2009, vom April 2010, vom Oktober 2012 und vom April 2014) und der Stuttgarter Zeitung vom April 2014. "Viel Geld für wenig Wiederaufbau" titelte der Spiegel bereits 2011.]
L’Aquila: Die Suche nach einem Einkaufsladen verläuft ergebnislos. Bauzäune und Gerüste. Eine Bank in einem modernen Gebäude hat offen. Wir kehren ins Hotel zurück und bestellen das Taxi, das uns nach San Demetrio ne’ Vestini bringen soll.
Wanderung von San Demetrio ne’ Vestini nach Caporciano
Der Taxifahrer bringt uns zum Platz vor der Post. Wir gönnen uns einen Cappuccino zur Stärkung. Gegen 11 Uhr steigen wir die Treppen hinauf, gehen an der Kirche vorbei und wandern zum Dorf San Giovanni. Dort geht es dann ins Grüne, durch eine Schlucht und steinig aufwärts.
Zwischen Mandelbäumen hindurch haben wir einen schönen Blick zurück nach San Giovanni. Schon geht es weiter aufwärts zu einer Hochfläche, wo wir links die hohen Berge des Gran-Sasso-Gebirges sehen. Wir wandern auf dem sogenannten Tratturo Magno, einer einstigen Hauptroute der Wanderschäferei. Dann sehen wir weit vor uns die Mauern der alten Römerstadt Peltuinum am Horizont.
Peltuinum – eigentlich ein ausgesucht schöner Platz für eine Siedlung: Zentral auf einer Anhöhe liegend und mit herrlichen Ausblicken in alle Richtungen. Hier konnte man jeden Besucher rechtzeitig herannahen sehen. Vor etwa 2.500 Jahren haben die Vestiner – ein Stamm der italischen Urbevölkerung – sich hier niedergelassen. Unter den Römern entwickelte sich der Ort zu einer bedeutenden Provinzstadt. Wir nutzen den Schatten der Mauern für eine kräftigende Mittagsrast.
[Ins Bild klicken für interaktives, zoombares Panorama]
Auf einer alten Römerstraße, der Via Claudia Nova gelangen wir an den Rand des Hochplateaus und genießen einen herrlichen Blick auf die Hochebene von Navelli, die für ihren Safrananbau bekannt ist.
Ganz unten biegen wir nach rechts ab, durchqueren die freie Feldflur und gehen am Waldrand entlang zum kleinen Döörfchen Tussio, vorbei an der Kirche Madonna della Neve. Die Häuser klettern den Hügel hinauf und ganz oben thront die Kirche. Zwei braun gebrannte ältere Männer kommen auf uns zugerannt, sie trauen ihren Augen nicht: Wanderer!! Woher wir denn kämen, fragen sie. Aus England? Aus Holland? Nein, aus Deutschland. Ah, Fußball-Weltmeister!! Einer schüttelt uns anerkennend die Hand. Der andere verweist uns auf eine alte Löwenfigur neben der Kirche und erklärt uns, dass sie so alt sei wie Pontius Pilatus…
Bald haben wir Tussio hinter uns gelassen und steigen im Mischwald gemächlich bergauf. Unglaublich grobe, dicke Rinden begeistern mich an einem Baum. Silberdisteln, blau glänzende Disteln und unscheinbare weiße Blüten verzieren den Wegesrand.
Baldl haben wir den höchsten Punkt des Tages auf etwa 1039 Metern erreicht. Schon sehen wir vor uns die Burgruine des Castello Bominaco. Die Sonne hat sich inzwischen leider hinter grauen Schleiern versteckt. Nur hin und wieder kommt ein suchender Strahl hervor und beleuchtet wie ein Spotlight die weite Landschaft. Hinter dem kleinen Dörfchen Bominaco mit seinen etwa 60 Einwohnern, biegen wir aufwärts zu den Kirchen, die auf einem Bergsporn unterhalb des Kastells thronen.
In der ersten Kirche San Pellegrino haben wir Glück: Es ist gerade eine Gruppe zu einer kleinen Führung im Inneren der Kirche. Normalerweise muss man erst telefonieren und eine Besichtigung vereinbaren. Kaum in Inneren, verschlägt es uns andächtig-staunend fast die Sprache:. Die kleine Kirchenhalle ist vollständig mit ungewöhnlichen Fresken ausgemalt, die aus dem 13. Jahrhundert datieren. Drei verschiedene Maler haben die Kindheit und Passion Jesu und das Leben des heiligen Pellegrinus abgebildet. Ein Bereich ist einem Kalender gewidmet, verbunden mit Sternzeichen, Mondphasen und Symbole der religiösen Feste. Die Decke ist verziert mit schmückenden Ornamenten.
Neben dem riesenhaft wirkenden Christophorus (rechts) ist ein Eremit dargestellt. Der Einsiedler lebt abgeschieden in einer Höhle. Seine einzige “Bekleidung” ist sein langes Haar.
Die Kustodin geht mit uns noch hinauf zur zweiten Kirche – Santa Maria Assunta – die als rein romanische Kirche im 12. und 13. Jahrhundert erbaut wurde. Ein sogenanntes Zibotium über dem Altar ist die Besonderheit dieser Kirche.
Schließlich genießen wir noch die Aussicht, die sich weit hinaus erstreckt. Leider hat sich die Sonne rar gemacht und das Dörfchen Caporciano tief unter uns bleibt etwas farblos im fahlen Licht. Wir finden den Abstieg zur Straße erst beim zweiten Anlauf. Nach etwa einer halben Stunde liegt Caporciano direkt vor uns.
Wir sind untergebracht im Agriturismo 4A und bekommen dort auch Abendessen und Frühstück. 4 A ist der Sammelbegriff für die vier Kinder des Hauses, deren Namen alle mit A beginnen: Antonio, Antonella, Andrea und Annalisa. Das Abendessen ist ein Querschnitt heimischer Küche: selbstgemachte Kekse, bestrichen mit Geranienbutter, Frischkäse mit Veilchenmarmelade! In Essigkräuter-Öl eingelegte Zucchini. Kartoffelpürree in Fischform, schwarzer Reis – eine wahrhaftige Köstlichkeit. Dazwischen gibt es einen “grünes Feuer” genannten Schnaps zur Verdauung (wow, ist der stark!). Mit Spaghetti mit Hasenragout geht es weiter. Es folgen dünne Kalbsschnitzel mit einer Limonen-Pfeffer-Sauce. Und nun ein Caprese: Tomaten, Mozzarella, Basilikum. Zum Schluss ein Espresso und fünferlei Grappa: Würfelzucker, in Veilchen, mit Aprikosen, eingelegten Erdbeeren und purem Grappa.
17 Kilometer haben wir heute zurückgelegt. Zwischen allerlei Krimskrams – in meinem Zimmer dreht sich alles um Hunde, Helmuts Zimmermotto sind Fledermäuse – verbringen wir eine ruhige Nacht.
meist sonnig 17,3 km 5,47 km/h 569 hm 420 hm 7:00 Std
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