Gestriges und (fast) Heutiges

Gestriges und (fast) Heutiges

Sinfonietta von Jiri Kylian (c) jl-tanghe


beim Tanzabend Kylián/Inger an der Opéra national du Rhin

Mit Jiří Kyliáns beiden Choreographien Sinfonietta und Overgrown Path und Johan Ingers Walking Mad brachte das Ballett der Opéra national du Rhin in Straßburg drei – bzw. vier Werke auf die Bühne, die fast so etwas wie einen Stempel der Jahreszahl ihrer Entstehung tragen.

Kylián, der über 70 Choreografien für das Nederlands Dans Theater erarbeitete und dieses bis 1999 als künstlerischer Direktor leitete und weltberühmt machte, schuf beide Arbeiten nach der Musik seines tschechischen Landsmannes Leoš Janáček, wobei die Sinfonietta vom Band eingespielt wurde und das Werk „Auf verwachsenem Pfade“ in der Originalfassung für Klavier von Maxime Georges live interpretiert wurde. Die Entstehungszeit der Arbeiten – 1978 für die Sinfonietta sowie 1980 für Overgrown Path liegen – für die heutige, schnelllebige Kunstlandschaft – Ewigkeiten zurück. Und man sieht es ihnen auch an.

Die folkloristisch-pathetisch angehauchte musikalische Erzählung Janáčeks findet in Kyliáns tänzerischer Interpretation einen ebenbürtigen Widerpart. In den langen Sprung- und Hebefigurpartien zelebrierte der Choreograf Historisches – nur wenige zeitgenössische Hinweise machten klar, dass er sich am Beginn einer neuen Ära befand. War die Sinfonietta sein künstlerischer Durchbruch, mit dem er in den Choreografenhimmel aufstieg, so ist Overgrown Path dennoch schon Meilen weiter in die Zukunft gedacht und getanzt. Jeder Satz wurde mit einer veränderten Besetzung versehen, wobei vor allem die Figuren, die Kylián aus drei Personen zusammensetzte, von einer Ästhetik geprägt sind, die trotz ihres ständigen Wechsels eine feine, zarte Geschmeidigkeit zeigen, die den Tanz in seiner schönsten Form zelebriert. Die Stelle, in der das Liebespaar sich gegenseitig, aber auch selbst zärtlich den Kopf hält, berührt und offenbart zugleich, wie groß Jiří Kyliáns Gespür für jede einzelne Klangfarbe des Werkes war und wie koherent er dies umsetzen konnte. Der bedrückende Schluss, das Verlassenwerden und das Abschiednehmen, wird noch lange nach dem Verklingen der letzten Note getanzt, lange, nachdem der Pianist sein Klavier verlassen hat.

Gestriges und (fast) Heutiges

Walking mad von Johan Inger (c) jl-tanghe


Im krassen Gegensatz dazu stand der zweite Teil des Abends – Johan Ingers Arbeit „Walking Mad“ aus dem Jahr 2001, die aus dem Bolero von Ravel und Arvo Pärts „Für Aline“ zusammengesetzt ist. Obwohl nun auch schon beinahe 10 Jahre alt, besticht die Choreografie Ingers, der von Kylián einst ans Nederlands Dans Theater gerufen worden war und später intensiv mit dem Cullberg Ballett zusammenarbeitete, nach wie vor durch ihren Witz, ihre Frische und ihre Überraschungselemente im Bühnenbild. Eine lange Bretterwand, die sich wie in alten Slapstickfilmen oder auch Komödien durch mehrere auf- und zugehende Türen belebt, wird neben den Tänzerinnen und Tänzern zum Hauptdarsteller. Als einer der Tänzer an der Wand hochspringt und diese nach hinten umkippt, um sofort auf dem Boden liegend wieder zum Tanzboden zu werden, hält das Publikum kurz den Atem an. Ingers Bolero erweist sich als Hintergrundmusik zu einem Geschlechterkampf, der teilweise brutal offen ausgetragen wird. In den Partien, in denen ein Paar entlang der nun in der Mitte zusammengeknickten Wand sich gegenseitig gegen diese drückt, sich gewaltsam auf den Boden schleudert oder fallen lässt, gerät die Choreografie beinahe schon zu einer Stuntregie. Die mit roten Kappen versehenen Zwergenmänner, die einer Frau wie von Sinnen hinterher laufen und dabei in ihren Bewegungen davon sprechen, wie unbeschwert und fröhlich das Leben doch sein kann, stehen dazu im krassen Gegensatz. Aber Gegensätze ziehen sich an – zumindest funktioniert es auf der Bühne bei Inger wunderbar. Dass bei zeitgenössischem Tanz wie diesem hier auch gelacht werden darf, kommt so selten vor, und tut doch so unendlich gut, dass er dafür noch nachträglich einen Orden verliehen bekommen müsste.

„Für Aline“ zeigt im Abschluss noch einmal den tragischen Versuch eines Mannes, eine Frau zu erobern, die doch ihre vorangegangene Liebe nicht vergessen kann. Anziehung und Abstoßung sind auch hier die tragenden Elemente, wenngleich die Poesie der Bewegungen hier viel stärker zum Tragen kommt. Der unversöhnliche Schluss verschränkt sich mit jenem zuvor gesehenen von Kylián und kann so fast wie das Anschlussglied zu einem Perpetuum mobile eines Tanzabends gesehen werden.

Die Stücke von Kylián/Inger verweisen auf die jüngste und etwas länger zurückliegende Geschichte des zeitgenössischen Tanzes und schärfen in dieser Kombination ganz besonders den Blick für die Entwicklung bis heute. Dem Straßburger Tanzensemble wird durch die große Bandbreite der Stücke nicht wenig zugemutet. Einige Tänzer standen sowohl in der Sinfonietta als auch in Walking Mad auf der Bühne, was ein blitzschnelles Wechseln in völlig andere Bewegungsmuster bedeutet. Dass hier so manche Präzision der Synchronizität – vor allem in dem am klassischen Ballett orientierten Werk der Sinfonietta – ein wenig auf der Strecke bleiben musste, ergibt sich fast zwangsläufig. Der von allen Tänzerinnen und Tänzern meisterlich interpretierte Bolero mit seiner daran anschließenden Aline wurde zum Publikum zu Recht enthusiastisch beklatscht.


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