Gestern, heute und alles dazwischen

Simon Mayer hat Kultstatus erreicht. Seinen beiden Vorstellungen „SunBeng Sitting“ im Rahmen der 8:tension des ImpulsTanz Festival wurde noch ein Zusatztermin im Odeon hinzugefügt. Obwohl diese Produktion in Wien schon öfter zu sehen war.

Es sind gleich mehrere Faktoren, welche „SunBeng Sitting“ so spannend machen. Zum einen ist es das tänzerische Können, das Mayer hier offeriert. Zum anderen der große, intelligente Spannungsbogen seiner Erzählung über ein Thema, das den Tanz selbst zum Inhalt hat. Nicht zuletzt ist es seine große Kreativität, die Mayer hier auf unterschiedlichen Gebieten einbringt. Tanzen, singen, Violine-spielen, ein eigenes Rhythmus-Orchester loopen, choreografieren, was kann dieser Mann nicht?

Sein Mantra-artiges „Im-Kreis-Drehen“, mit seitlich gestreckten Armen, oder solchen, die er an seinem Körper herabhängen lässt, nur auf einem Bein oder in kunstvollen Sprüngen auf beiden, all das bietet er in einer derart großen Variabilität an, dass es eine reine Lust ist, zuzusehen. Ganz abgesehen davon, dass man ihn währenddessen ob seiner Kondition grenzenlos bewundert. An späterer Stelle ist es seine Schuhplattel-Choreografie, die es in sich hat. Langsam kommt er damit in Schwung, schlägt sich auf seine nackten Oberschenkel und steigert sich schließlich so ins Tempo, dass seine Haut bald rote Flecken vom ständigen Malträtieren aufweist. In einem abstrahierten Bandltanz, bei dem er ein von der Decke herabgelassenes Mikrofon als Band einsetzt, entstehen in den Köpfen des Publikums rasch Assoziationen zu alpenländischem Volkstanz. An späterer Stelle wird das Multitalent zeigen, dass er selbst ganz eigene Vorstellungen zu diesem Thema entwickelt hat. Denn er kombiniert Elemente aus unterschiedlichen Volkstänzen mit solchen des Balletts und des zeitgenössischen Tanzes. Entfesselt lustvoll, ohne Rücksicht auf irgendwelche Normen.

All das bringt Mayer in einer reflektorisch richtigen Abfolge, denn er beginnt mit einem unglaublich poetischen Auftritt im dunklen Saal. Vögel zwitschern, Grillen zirpen, ein Jodler kommt zart von unterschiedlichen Positionen des Raumes. Das Kopfkino darf sich eine herrliche Berglandschaft dazu denken mit grünen Wiesen, Wäldern und kleinen Almhütten. Fast unmerklich mischt sich ein elektronischer Sound dazu und schwillt dermaßen an, dass er schließlich nichts mehr von dieser Idylle übrig lässt. Wie ein Felssturz oder eine unhaltbare Naturgewalt endet er in einem Höllengetöse und lässt dabei offenbar keinen Stein auf dem anderen. Bis das Licht angeht und sich auf den nackten Tänzer fokussiert. Mayer beginnt spannungsgeladen eine lange Gasselschnalzerpeitsche zu schwingen und mit seinem ersten lauten Schnalzer, verstummt die bedrohliche, auditive Szenerie.

Der weitere Verlauf ist bestimmt von sich nahtlos ablösenden Szenen in welchen Mayer all das verpackt, was den Volkstanz seines Heimatlandes in den letzten hundert Jahren beeinflusste. Oder besser gesagt, was der Körper eines Tänzers wie Simon Mayer, der seinen Wurzeln in Österreich auf der Spur ist, an Informationen darüber gespeichert hat. Mayer wurde ursprünglich am Ballett der Wiener Staatsoper ausgebildet und ging danach nach Brüssel. Zusammenarbeiten mit Anne Teresa de Keersmaeker, Wim Vandekeybus und Zita Swoon schärften seinen Blick auch auf seine eigene Herkunft und ermöglichten ihm erst einen anderen Zugang zu seiner heimatlichen Tanztradition. Der Tänzer erwähnte in einem Interview, dass der Volkstanz so viel Schönes bereithielte, aber nicht nur ideologisch missbraucht wurde, sondern heute auch in verkrusteten Traditionen feststecke.

Davon erzählen seine Schuhplattler und Bandltänze auch auf der Bühne. Seine zackigen Bewegungen, seine stereotypen Schritte, die er wie im Drill eines Kasernenhofes wiedergibt, legen Assoziationen nicht nur zur Nazizeit, sondern auch zu all jenen Veranstaltungen, in welchen heute Brauchstumstänze vor einer Jury möglichst minutiös getanzt werden müssen, um einen Preis zu erhalten. „Ich möchte diese Tänze von all dem Belastenden reinigen“, so Mayer bei einem Gespräch, und tatsächlich zeigt er auch, wie das vonstattengehen kann. In einem hoch poetischen Moment nimmt das Mikrofon die Stelle einer verletzten Idee ein. Einer kreativen, musikalisch-tänzerischen, die sich jeglicher Ideologie entziehen möchte. Als er es fangen möchte, verschwindet es folgerichtig in die Luft.

In SunBeng Sitting jedoch ist es nicht nur die belastende Vergangenheit, gegen die der Tänzer auftritt. Er präsentiert schonungslos eine Gegenwart, die versucht, alles zu kappen, was auch nur irgendwie mit Tradition zu tun hat. Und doch kann der Mensch, kann die Kultur nicht ohne das Wissen um ihre Vergangenheit existieren. In einer eindrucksvollen Persiflage auf einen Popsong, der in kunstvollen Loops Schicht für Schicht selbst zusammengestellt wird und sich aus einem Jodler entwickelt, wird schließlich eine unverständliche Textmischung, die sich musikalisch an zeitgeistige Chart-Sieger anlehnt. Wie auf einem kleinen, geheiligten Plätzchen legt der Kreative Säge, Axt und andere manuell zu bedienende Werkzeuge ab, um sich danach mit einer Motorsäge an einem Baumstamm ans Werk zu machen.

Am Ende dieser Aktion steht eine klobige Bank, die mit einer kleinen Grünpflanze, Sägespänen und einer kitschigen Spieluhr so etwas wie rurale Nostalgie verbreiten soll. In der letzten Szene taucht Mayer mit einem Jodler über einen abgestürzten Edelweiß-Pflücker in seine kindlich erlernte Liedwelt ein. Nicht ohne die vorangestellte, wunderbare, englische Übersetzung, in der erst der Wahnsinn und das Grauen der Geschichte richtig sichtbar wird, die in eine so wunderbar harmlose Musik verpackt wurde.

„SunBeng Sitting“ hat alles, was ein gutes, zeitgenössisches Tanzstück braucht. Eine intelligente Idee, einen Tänzer, der sich in allem, was er auf der Bühne tut, dem vollen Risiko aussetzt. Es offeriert eine Musik, die bezaubert und beeindruckt und durch ein perfektes Sounddesign (Pascal Holper) unterstützt wird. Der Abend hält zugleich aber auch jede Menge gedanklichen Zündstoff bereit. Diskussionsmaterial, das dazu beiträgt, die Geschichte des österreichischen Brauchtums gründlich zu hinterfragen. Dass Mayer es nicht dabei belässt, sondern Mittel und Wege sucht, sich dabei aktiv als Ideenlieferant einzubringen, gibt der Arbeit einen zusätzlichen Bonuspunkt.

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Das leichte Vogelgezwitscher im Abspann kann über die Tatsächlichkeiten des Zustandes unserer Welt nicht mehr hinwegtäuschen. Nicht enden wollender Applaus – zu Recht.


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