Gesellschaft in vier Phasen

Die kapitalistische Gesellschaft ist ein interessanter, eigentlich unerklärlicher Patient; einer, der seit mehr als 150 Jahren im Sterben liegt und sämtliche Phasen des Sterbens (nach Elisabeth Kübler-Ross) durchlebt - der aber nie in der letzten Phase ankommt, stets dem Tod noch mal von der Schippe springt. Er hüpft von Phase vier zurück auf Phase eins oder zwei, je nachdem, was das kurze Glück wirtschaftlicher Zustände gerade zulässt - nur Phase fünf, der letzten Phase, geht er nicht ins Netz. Die kapitalistische Gesellschaft ist zählebig und übersteht die vereinzelten Krisen ihres Siechtums stets aufs Neue - nicht blendend, meist arg gebeutelt: aber immerhin, man lebt noch!
Betrachten wir die Koliken, die die deutsche kapitalistische Gesellschaft in den letzten Monaten beutelten, anhand der fünf Phasen des Sterbens nach Kübler-Ross:

1. Phase: Leugnung
Marodes System? Wir sollen ein marodes System sein? Neinnein, das ist ja ausgeschlossen! Alle anderen Systeme haben versagt - gibt es denn den Warschauer Pakt noch, hm? Gut, wir hatten eine Krise, aber wir sind doch eben dabei, sie vorbildlich zu stemmen. Nein, das System ist nicht krank - einige wenige sind es, einige wenige missbrauchen das System. Die blanke Gier einiger Einzelner macht die Krise - sie war doch nicht im Kern angelegt. Ein Paar Bazillen sind ins System geraten, das ja! Doch deswegen ist noch lange nicht der ganze Körper krank! Ein sterbendes System! So ein Irrsinn - Spekulanten waren es; und die sind eine vergleichsweise leicht zu kurierende Infektion. Einzelfälle waren es - aber das System ist intakt, ist stimmig, bringt jene Vorzüge des Menschen zum Vorschein, die eine gesunde Gesellschaft braucht!

2. Phase: Zorn

Die Typen an der Börse waren es! Das sind die Sünder, die gehören bestraft. Rigoros bestraft! Die und diese ganze Bande fauler Schweine! Die Arbeitslosen, die uns unser schönes Geld kosten. Und die Ausländer, die sich in unsere Hängematte legen und sich von uns auch noch füttern lassen. Moslems und Araber, die sollte man mal zur Rechenschaft ziehen. Und Arbeitslager müssen her, damit diese müßiggängerische Clique mal einen anderen Wind verspürt. Überhaupt diese ganze linke Irrenanstalt sollte mal verboten werden, diese Gutmenschen mit ihrem Multikulti und ihrem Geseier vom Guten im Menschen. Solche müssten wir ausmerzen, dann können wir den Karren wieder aus dem Sumpf ziehen, dann wären wir keine Gesellschaft in einem maroden System - wird sind nicht marode, wir sind nur übersatt und übervoll an überflüssigen Menschenmaterial.
3. Phase: Verhandeln
Vielleicht ist ja ein bisschen Wahres dran, vielleicht sind es nicht nur diese Bazillen, die sich am System schadlos halten - kann sein, dass es kleine Ungereimtheiten im System gibt; möglich, dass wir das jetzt mal einsehen müssen. Der Kapitalismus ist doch nicht unfehlbar - und das ist ja gerade das Reizvolle: er ist menschlich, weil er wie der Mensch nicht unfehlbar ist. Man muß Fehler eingestehen können - das ist sympathisch! Daher müssen wir das System stützen, wir müssen mit denen verhandeln, die an vorderster Front miterleben, dass es Gefahrenquellen gibt: bei den Spekulanten, bei den Bankern. Spannt Rettungsschirme auf! Vermittelt zwischen den Grundlagen des Systems und diesen winzigen Fehlern des Systems! Federt ab! Es ist ja noch nicht alles verloren - wenn wir vermitteln, wenn wir als Gesellschaft finanziell einspringen, dann können wir dem Siechtum doch spielend entkommen.
4. Phase: Depression
Ach, es hilft ja alles doch nichts! Das irdische Getümmel ist beschissen - und unser System, so irdisch wie es ist, es ist letztlich auch so. Es ist so unterirdisch, weil es irdisch ist. Man kann ja schuften, machen, Schirme aufspannen: am Ende obsiegt die Niederlage, schlussendlich liegen wir alle darnieder. Gut, wir sind halt marode, wir sind eine malade Veranstaltung - man muß es endgültig einsehen. Aber marode und sterbenskrank sind noch alle Systeme gewesen. Machen wir uns nichts vor: wir sind vergänglich in einer vergänglichen Welt; wir sind das beschissene Produkt eines Globus, auf dem es nur so von Beschissenen wimmelt. Alles Scheiße! Wir sind alle dem Untergang geweiht. Am Ende sind wir alle tot...
Hier setzte die fünfte Phase an, hier schrübe Elisabeth Kübler-Ross der Akzeptanz Raum zu - doch so weit kommt es beim kapitalistischen Patienten nie. Das macht ihn als Patienten so spannend: seine Gesellschaften haben bis heute nie akzeptiert, dass sie in einem System leben, dass von Geburt an erkrankt war; immer dann, wenn man kurz vor der Akzeptanz stand, konnte leichte Linderung bewirkt werden und die Massen taumelten aus der Depression zurück in den Zorn oder zur Leugnung. Würden die kapitalistischen Gesellschaften die fünfte Phase beschreiten, sie würden gelassener und würden hinnehmen, dass dieses System, das man für das einzig wahrhaftige hält, keine Dauerlösung sein kann - und der Patient Kapitalismus wäre bereits tot.

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