Gesellschaft: Immer mehr Menschen fühlen sich ausgeschlossen

Heute noch etwas zum Stichwort Verelendung. Natürlich ist mir klar, dass es den Menschen Deutschland im Durchschnitt noch ganz gut geht, wenn man die Lebensverhältnisse mit denen früherer Zeiten vergleicht, etwa mit den Hochzeiten der industriellen Revolution, der Weimarer Republik oder der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Da war Elend noch richtiges Elend, da sind die Leute verhungert und erfroren, weil sie keine Schuhe und keinen Wintermantel hatten, da gab es Mord und Totschlag um ein Brot oder einen Sack Kartoffeln.

Und ich weiß auch, dass es in gar nicht wenigen Teilen dieser Erde noch immer viel zu viel von diesem existenziellen Elend gibt. Und das, obwohl der wunderbar erfolgreiche Kapitalismus eigentlich produktiv genug wäre, alle Menschen mit dem zum Leben nötigen zu versorgen. Aber da ist noch das Problem, dass Menschen, die kein Geld haben, von all den schönen Dingen ausgeschlossen sind, die mit überbordender Produktivität auf die Märkte geworfen werden. Und wegen dieser überbordenden Produktivität werden immer weniger Menschen gebraucht, den ganzen Krempel zu produzieren. Ziemlich blöd für eine Gesellschaft, in der zu den wenigen legalen Möglichkeiten, sich Geld und damit einen Lebensunterhalt zu verschaffen, die Lohnarbeit gehört: Wer keine Gelegenheit hat, sich Geld zu erarbeiten, bekommt halt keins, oder wie hier zulande, halt ziemlich wenig. Nun kann man natürlich argumentieren, dass so mancher Afrikaner oder Asiat glücklich sein würde, wenigstens auf deutschem Hartz-IV-Niveau seine Existenz fristen zu dürfen.

Ich finde diese Argumentation total daneben – sie geht ja davon aus, dass die Verhältnisse, so wie sind, schon in Ordnung gehen, die Leute hier sind halt nur verwöhnt und undankbar. Sie jammern auf hohem Niveau, während es anderen Leuten in anderen Ländern wirklich schecht geht. Nun könnte man auch mal fragen, warum das so sein muss. Und dann kann man feststellen, dass die Produktion von ungeheurem Reichtum auf der einen Seite immer mit ungeheurem Elend auf der anderen Seite bezahlt wird – und Europa und Nordamerika bisher ganz gut darin waren, das Elend in andere Teile der Welt auszulagern. Es ist nun mal nicht so, dass die Leute einfach die Ärmel hochkrempeln und tüchtig arbeiten müssten, damit es ihnen besser geht: Wenn ihre Arbeit nicht nachgefragt wird, dann nützt die ganze Mühe nichts.

Aber auch das Auslagern von Elend wird zunehmend schwieriger. In der globalen Konkurrenz gibt es neue Spieler, die nun auch ein Stück vom kapitalistischen Kuchen abhaben wollen – etwa die Chinesen. Zwar nennt man die dortige Regierung hartnäckig weiterhin “kommunistisch”, aber sie agiert extrem kapitalistisch und ist damit ziemlich erfolgreich. Mit der Folge, dass die Arbeiter in Deutschland nicht mehr nur mit den Arbeitern in Frankreich, Spanien oder den USA konkurrieren, sondern mit denen in China. Was dazu führt, dass das Lohn- und Lebensniveau in China langsam ansteigt, das in Deutschland (und nicht nur hier) aber sinkt. Nun muss man das noch nicht Verelendung nennen, aber selbst wenn man einen netteren Begriff dafür findet, so ist es doch ein Fakt, dass es den Menschen in Deutschland (und erst recht denen in Spanien oder Griechenland) seit Jahren im Durchschnitt immer schlechter geht.

Gratwanderung zwischen Meistern und Absturz

Das ist inzwischen deutlich zu spüren: Immer mehr Menschen in Deutschland haben das Gefühl, dass sie mit ihrer Situation nicht mehr klar kommen und ihre gesellschaftliche Teilhabe nicht gesichert ist. Wissenschaftler der Universität Kassel haben bei der Tagung Inklusive, Teilhabe und Behinderung – Anfragen an die (Human-) Wissenschaften darauf hingewiesen. “60 Prozent der deutschen Bevölkerung erleben ihre finanzielle Situation als ständige Gratwanderung zwischen Meistern und Absturz”, sagte der Sozialpsychologe Prof. Dr. Ernst-Dieter Lantermann. “40 Prozent machen sich große Sorgen um ihren Arbeitsplatz, über 50 Prozent befürchten, dass sie ihre Ansprüche im Alter deutlich senken müssen.” 40 Prozent der Befragten sähen ihre Gesundheit als bedroht an, 60 Prozent glaubten, dass in Deutschland die Häufigkeit sozialer Notlagen deutlich zunehmen würde. 30 Prozent befürchten eine Erosion ihrer sozialen Netze.

Diese Ergebnisse gehen aus einer Befragung von 1.200 repräsentativ ausgewählten Bundesbürgern über 18 Jahren hervor, die im Auftrag der Universität Kassel und des Hamburger Instituts für Sozialforschung durchgeführt wurde.

Die weit verbreitete Wahrnehmung, dass wesentliche Leistungen der Gesellschaft wie eine vernünftig bezahlte Arbeit, sichere Alters- oder Gesundheitsvorsorge nicht mehr für alle da sind, habe zur Folge, dass sich viele Menschen von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten, betonte Lantermann, “und gesellschaftliches Exklusionsempfinden korrespondiert in starkem Maße mit einem Verlust an Lebenszufriedenheit und Glück sowie mit einem Nachlassen an Selbstsorge, einschließlich eines verminderten bürgerschaftlichen Engagements.”

Wie erfolgreich der einzelne diese Situation bewältigen könne, hänge stark von den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Wesentlich seien dabei allerdings nicht nur so genannte “externe Ressourcen” wie Einkommen, Bildung, die berufliche Position oder verlässliche Freunde. Entscheidend seien häufig auch die “internen Ressourcen” des Betroffenen, wie etwa Neugier, Risikofreude, Zielorientiertheit, aber auch Vertrauen in sich selbst, sein soziales Umfeld oder in die gesellschaftlichen Institutionen.

Bei Menschen, die über nur wenige externe wie interne Ressourcen verfügten, steige das Risiko psychosomatischer Erkrankungen deutlich, warnte der Sozialpsychologe: “55 Prozent der Ressourcenarmen, aber nur 15 Prozent der Ressourcenreichen berichten in vergleichbar exkludierenden Lebenssituationen über regelmäßige Niedergeschlagenheit, 43 gegenüber 11 Prozent über Angstgefühle, 28 gegenüber 5 Prozent über Antriebslosigkeit.” Entsprechendes gelte für das Risiko, sich in exkludierenden Situationen überfordert zu sehen: “46 Prozent der Ressourcenarmen, aber nur 2 Prozent der Ressourcenreichen geben an, dass die Anforderungen, die mit exkludierenden Lebenslagen einhergehen, ihre Möglichkeiten übersteigen.”

Allerdings ist das Vorhandensein ausreichender persönlicher Ressourcen allein noch keine Garantie dafür, dass der Einzelne mit schwierigen Lebenssituationen klar kommt. Entscheidend sei vielmehr, ob das Individuum sich noch als Teil der Gesellschaft sehe oder sich selbst als ausgeschlossen betrachte: “Wer für sich einen Platz im ‘gedachten Ganzen’ der Gesellschaft sieht, ist eher bereit für sich zu sorgen, als jemand, der sich verloren und ohne Repräsentanz in einer Bezugsgruppe im gesellschaftlichen Kosmos vorkommt” erklärte Soziologe Prof. Dr. Heinz Bude.

“Das Gefühl, nicht mehr richtig zur Gesellschaft zu gehören, von den gesellschaftlichen Prozessen und Ressourcen ausgeschlossen zu sein, scheint nach allen unseren Befunden eine Schlüsselerfahrung im Prozess des Umgangs mit exkludierenden Lebensverhältnissen zu sein“, sagte auch Lantermann. “Gleich, wie sonst die Lebensverhältnisse auch sein mögen, ob inkludierend oder eher exkludierend – wer sich gesellschaftlich ausgeschlossen empfindet, der ist in seiner praktischen Lebensführung stärkeren Belastungen ausgesetzt und neigt in stärkerem Maße zur Resignation, mangelnder Selbstsorge und Abwehr allen Fremdens.”



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