Gesellschaft 3.0 - Die Kultur des Kinderkriegens

Von Urzeit
Noch heute, mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, finden sich große kulturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bei einer zentralen Lebensentscheidung: der Gründung einer Familie.
Aus: Spektrum der Wissenschaft, Mai 2011
Fragt man den Deutschen in jugendlichen Jahren, wie viele Kinder er in seinem Leben haben will, so liegt die Antwort bei etwas mehr als 2 – die Bestandserhaltungsquote, wie die Züchter sagen würden. Wenn es aber ernst wird, geraten die guten Vorsätze offensichtlich ins Wanken. Denn die Anzahl der Kinder, die eine Frau in Deutschland im Laufe ihres Lebens zur Welt bringt, liegt gerade mal bei 1,4. Wie kommt das? Gibt es eine allgemeine Unlust am Kinderkriegen? Oder ist der fordernde Arbeitsmarkt schuld am Rückgang der Geburtenzahlen?
Zu dieser Frage hat das Max-Planck-Institut für demografische Forschung unter dem Titel "Kultur der Reproduktion" eine Studie durchgeführt – mit ungewöhnlich hohem Aufwand. Das Lieblingsinstrument der Sozialwissenschaftler alter Schule, der Fragebogen, erwies sich nämlich für die Aufgabenstellung als ungeeignet. So besuchten die MPI-Forscher zahlreiche Personen im kritischen Alter (26 bis 31 Jahre) zu zweistündigen Interviews, arbeiteten aber nicht, wie sonst üblich, einen langen Fragenkatalog ab, sondern stellten nur einige allgemein gehaltene Fragen, ließen sie dann draufloserzählen und werteten später in mühsamer Kleinarbeit ihre Äußerungen aus. Zusätzlich befragten sie die bedeutendsten Bezugspersonen (Eltern, Freunde, Kollegen …) ihrer Gesprächspartner.
Zwei der Feldforscher, der Psychologe Holger von der Lippe und der Soziologe Andreas Klärner, geben nun i"rerseits in einem Interview mit "Spektrum der Wissenschaft" (abgedruckt in der aktuellen Maiausgabe) Auskunft über Methoden und Ergebnisse.
Das überraschende Ergebnis: Auch heute gehen Ost- und Westdeutsche das Thema Familiengründung immer noch auf höchst unterschiedliche Weise an. Westdeutsche Paare denken erst an eine Verwirklichung ihres Kinderwunsches, wenn die berufliche Etablierung gelungen ist – im Regelfall die des Mannes. Das althergebrachte Rollenklischee mit dem männlichen Ernährer und der fürsorglichen Mutter, die maximal in Teilzeitarbeit beschäftigt ist, lebt noch ziemlich ungebrochen fort.
Dagegen sehen junge Ostdeutsche die Geburt eines Kindes nicht im Konflikt zur beruflichen Verwirklichung. Dass sie ein Kind zu betreuen haben, erleben sie nicht als Verlust von Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten, sondern als ein Problem, mit dem man sich arrangieren muss. Zum Beispiel, indem man auch ein sehr kleines Kind professioneller Betreuung anvertraut: Das taten im letzten Jahr 48,1 Prozent der Ostdeutschen, während es in Westdeutschland nur 17,4 Prozent waren.
West- wie Ostdeutsche bekommen ihre Haltung im Wesentlichen von ihren Eltern und Schwiegereltern vermittelt. Indem diese ihren erwachsenen Kindern die Wohnung finanzieren oder flexibel bei der Betreuung der Kleinen einspringen, realisieren sie nicht nur ihre eigenen Vorstellungen, sondern prägen sie auch der nächsten Generation auf – eine Art der Machtausübung, die die Betroffenen in der Regel gar nicht als solche empfinden. So ist zu erklären, dass Verhaltensmuster wie das flexible Sich-Arrangieren mit ungewissen Verhältnissen viel dauerhafter sind als diese Verhältnisse selbst – in diesem Fall die Mangelwirtschaft der DDR.
Für die Zukunft rechnen Klärner und von der Lippe allerdings damit, dass die Denkweisen sich eher dem Ost- als dem Westmodell angleichen werden – aus wirtschaftlichen Gründen: Die Voraussetzungen des westlichen Modells, ein sicherer Arbeitsplatz und wohlsituierte Eltern, die ihrem Nachwuchs unter die Arme greifen können, werden immer seltener.
Was den Einfluss angeht, den das Netzwerk der Freunde und Kollegen auf die Entscheidung für ein Kind ausübt, gibt es zumindest einen anekdotischen Befund: Während der Laufzeit der genannten Studie sind fünf weibliche Angehörige der Arbeitsgruppe schwanger geworden.