Geschichte lernen

Von Oeffingerfreidenker
Letzte Woche hat Bob Blume eine gute Frage auf Twitter gestellt, die mich seither umgetrieben hat:
Liebe Geschichtslehrer: YouTube-Kommentar wünscht sich, "wie man auf Geschichte lernen kann." Habe Antwort, würde mich aber auf Ergänzungen freuen. Ideen? @pallaske @eisenmed Gerne RT — ⓑ² (@blume_bob) 12. März 2018
Tatsächlich ist das keine irrelevante Frage. Gerade in der interessierten Öffentlichkeit steht ja immer noch die Vorstellung im Mittelpunkt, Geschichte lernen bestünde aus Fakten und Jahreszahlen. Die Bedeutung des Fachs ist wenig bestritten, gilt eine Grundkenntnis der Geschichte doch als Voraussetzung für das Dasein als mündiger Bürger. Jede Änderung der Bildungspläne für das Fach wird daher deutlich heißer diskutiert als, sagen wir, die für Biologie. So beklagte die FAZ etwa 2016, die jüngsten Bildungsplanreformen seien "das Werk von Technokraten" die "Geschichte zur Betroffenheitspädagogik" machten; 2015 bezweifelte der Chef des deutschen Philologenverbands, dass "der Geschichtsunterricht noch in der Lage ist, die historische Dimension dieser heutigen Zeit zu vermitteln.“ Die Schüler seien immer weniger in der Lag, "Zusammenhänge zwischen früher und heute herzustellen und Lehren aus der Geschichte zu ziehen". Kritik wie diese findet man zuhauf; Längsschnitte (die Themenkomplexe ungeachtet der Chronologie untersuchen) und Alltagsgeschichte spielen eine größere Rolle in den Bildungsplänen. Angesichts dieser Konzentration auf Kompetenzen und Themenblöcke (hier genauer erklärt) statt Politikgeschichte und Chronologie steht für Schüler oftmals die Frage: wie genau lerne ich eigentlich auf dieses Fach?
Tatsächlich ist es keine ganz so einfache Frage. Vor 50 Jahren wäre die Antwort noch klar gewesen: lern die Biographie der Großen Männer, die Jahreszahlen und die Ereignisse auswendig. Wann war die Schlacht von Issos? 333. Wer gewann bei Borrodino? Napoleon. Was geschah 800 nach Christus? Karl der Große wird Kaiser. Damit hat man zwar bessere Chancen bei Trivial Pursuit, aber ein echtes Verständnis von Geschichte ist das auch nicht. Deswegen geriet diese Art, Geschichte zu betreiben, ab den 1970er Jahren auch in Verruf. Man führte Quellenanalyse und Quellenkritik in den Unterricht ein, begann soziohistorische Fragestellungen einzubringen und die Dominanz von Politik- und Kriegsgeschichte aufzubrechen, und jüngst kamen nun historische Kompetenzorientierungen hinzu, etwa die Fähigkeit, Sachverhalte eigenständig zu erklären oder gar zu erörtern und zu bewerten. Das verlangt von den Schülern einiges ab, besonders wenn sie das Fach nur zweistündig oder gar im Fächerverbund haben. Daher hier eine kurze Übersicht.
Das erste was Schüler verstehen sollten, wenn sie sich auf Geschichtsklausuren oder andere Leistungsfeststellungen vorbereiten, sind die Anforderungsniveaus. In anderen Bundesländern mögen sie anders heißen, aber das Grundprinzip sollte überall dasselbe sein. Wir unterteilen in grob drei Anforderungsgebiete.
Niveau I: Hier geht es um reine Reproduktion. Aufgabenstellungen ("Operatoren") umfassen "Nenne", "Arbeite heraus", "Ordne ein". Beispiele wären "Nenne drei Politiker Es handelt sich letztlich um klassisches Auswendiglernen. Die Idee ist, dass das erfolgreiche Bewältigen aller Aufgabenstellungen auf Niveau I für eine ausreichende Leistung (Note 4) genügt. Das heißt, wenn ich alles auswendig gelernt habe und das in der Arbeit hinschreibe, dann habe ich eine vier. Das dürfte für viele erst einmal ein Eimer kaltes Wasser sein. Was um Gottes Willen muss ich denn mehr tun, als massenhaft Stoff auswendig zu lernen?!
Niveau II: Der größte Teil einer Arbeit findet sich auf diesem Niveau. Es ist geprägt von Operatoren wie "Analysiere", "Erkläre", "Erläutere", "Charakterisiere", "Vergleiche". Dieses Niveau setzt voraus, dass die Schüler Inhalte nicht nur auswendig gelernt, sondern auch tatsächlich verstanden haben. Mit traditionellem "Lernen" war das bei weitem nicht garantiert. Dieses Verständnis allerdings ist auch nur insoweit interessant, als dass wir über das Trivial-Pursuit-Level hinauskommen; echte historische Kompetenz braucht einen weiteren Schritt.
Niveau III: Um in den guten bis sehr guten Notenbereich zu kommen, braucht es Fähigkeiten auf diesem Niveau. Hier finden sich Operatoren wie "Erörterte", "Bewerte" und "Beurteile". Diese Aufgabenstellungen sind schwierig, weil nicht nur sichere Faktenkenntnis und Verständnis erwartet werden, sondern auch die Fähigkeit, ein eigenes historisches Urteil zu bilden, wozu gegebenenfalls Vergleiche zu anderen Epochen und Ereignissen gezogen werden müssen.
In Klausuren sieht das üblicherweise so aus, dass einige Fakten auf Niveau I abgefragt werden, mindestens eine Quelle auf Niveau II analysiert sein will (meist eine Text- oder Bildquelle, häufig beides) und dann eine übergeordnete Fragestellung kommt. Als ein Beispiel aus einer meiner Klausuren zum Kalten Krieg könnte man zwei Stellvertreterkriege nennen, eine Karikatur zum Wettrüsten analysieren und dann beurteilen, wer eigentlich die größte Schuld am Kalten Krieg trägt.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: wie lerne ich darauf? Der erste Tipp, den ich hierfür geben würde ist mir darüber klar zu werden, was eigentlich mein Ziel ist. Jemand, der eine 5 auf eine 4 verbessern will, geht anders an die Sache heran als jemand, der seine 2- in den 1er-Bereich steigern möchte. In ersterem Falle würde ich dazu raten, überhaupt mal was zu lernen, denn offensichtlich hakte es hieran. Wenn man dann noch schaut, dass man alle Zusammenhänge in groben Zügen verstanden hat, muss schon viel schief gegen dass man noch unter die 4 rutscht; je nachdem, wie ordentlich die Zusammenhänge erfasst wurden, steht da locker die drei vor dem Komma.
Etwas schwieriger sind alle Ambitionen, die darüber hinaus gehen. Ohne ein gewisses Grundinteresse für das Thema und das Fach wird es hier schwierig, weil das Denken in historischen Dimensionen nichts ist, das sich einfach an einem konzentrierten Nachmittag einüben lässt. Die Erfordernis ist hier, ein Breitenwissen zu haben (was Bulimie-Lernen verhindert, bei dem man Fakten für eine Klausur reinpaukt und danach gleich wieder vergisst) und dieses entsprechend verbinden zu können. Für die obige Beispielaufgabe etwa würde es mir wenig helfen zu wissen, dass die Berlin-Blockade 1948 stattfand - ich brauche den Kontext, in dem diese Ereignisse statt fanden, und muss dann für mich selbst entscheiden ob die UdSSR nur auf einen fait accomplis des Westens (die Gründung der Trizone und die Einführung der D-Mark) reagierten, oder ob es sich um einen aggressiven Akt handelte. Keine dieser Varianten ist offensichtlich richtig; was ich als Lehrkraft hier bewerte ist die Begründung, in der die historische Urteilsfähigkeit gezeigt wird. Und die lernt sich nicht am Tafelaufschrieb und einem Wikipedia-Artikel, sondern durch Übung und tatsächliches Anwenden des entsprechenden Denkens.
Für die ursprüngliche Fragestellung scheint mir dieser Teil aber auch nur eingeschränkt relevant zu sein. Schüler, die sich in diesem Operatenniveau bewegen, fragen für gewöhnlich nicht, wie man auf Geschichte eigentlich lernen soll. Sie fragen, warum die USPD eigentlich 1919 der MSPD so viel Angst eingejagt hat und wundern sich, dass die im Kaiserreich so wichtigen liberalen Parteien im Tafelaufschrieb keine Rolle spielten.
Wie also lerne ich, wenn ich meine Note in den sicheren ausreichenden beziehungsweise potenziell in den guten bis befriedigenden Bereich bringen will? Hier empfehle ich mehrere Schritte.
  1. Grundgerüst an Fakten und Chronologie. Hier kommen die viel zitierten Jahreszahlen ins Spiel. Die relevantesten Daten sollte man im Kopf haben, denn wer Hyperinflation (1923) und Weltwirtschaftskrise (1929) im Ablauf durcheinander bringt, der kann gleich deutscher Wirtschaftsjournalist werden und erstere für das gute Abschneiden der NSDAP in den Folgejahren verantwortlich machen (kleiner Seitenhieb). Tatsächlich kommen Verwechslungen von Abläufen häufiger vor als man denkt und machen alle Erklärungen und Analysen als Folgefehler falsch. Das kann man mit nur ein wenig auswendig lernen leicht vermeiden; meine Schüler bekommen immer einen Zahlenkanon mit den rund 20 wichtigsten Jahreszahlen für das gesamte Schuljahr.
  2. Elementare Zusammenhänge. Hier helfen natürlich Tafelaufschriebe, die solche Zusammenhänge verdeutlichen (siehe dieser Artikel), denn sinnvolle Tafelanschriebe sind für den Punkt 1 nicht relevant, dafür gibt es das Schulbuch und/oder Wikipedia. Schaubilder etc., die Zusammenhänge aufzeigen, kann man nur verstehen wenn man die Fakten bereits kennt. Blättere ich als Schüler meine ordentlich gehaltenen (!) Aufschriebe durch und verstehe jeden davon ist das häufig ein guter Indikator. Wenn nicht, weiß ich wo ich nachhaken muss.
  3. Fragen. Am Ende dieses Prozesses stehen Fragen. Warum spielt der deutsche Liberalismus 1918/19 fast keine Rolle? Weshalb spaltet er sich unter Bismarck in zwei Strömungen, und warum gibt es eine davon heute nicht mehr? Diese Fragen helfen mir, Bruchstellen, Umbrüche und so weiter zu identifizieren und in einen größeren Rahmen zu stellen. Natürlich kann ich diese Fragen nicht einfach nur stellen, sondern muss auch aktiv an ihrer Beantwortung arbeiten. Hier bieten sich gute Mitschüler und der Fachlehrer als erste Anlaufstellen an.
  4. Zuletzt kann ich versuchen, die Zusammenhänge selbst zu formulieren. Entweder ich erstelle meine eigenen Schaubilder, die den Stoff umfassend darstellen, oder ich schreibe das als Fließtext auf, oder ich drehe ein Video, oder was auch immer - Leitfragen und andere Problematisierungen helfen hier natürlich massiv ("Warum wird der Kalte Krieg nicht heiß?" deckt Bündnispolitik, Rüstungswettlauf und Stellvertreterkriege ab; "Warum gab es keinen erfolgreichen Widerstand gegen Hitler?" erfordert Kenntnisse über die Gleichschaltung, Hitlers Erfolge in den 30er Jahren, die Gestapo und die Widerstandsbewegungen im Dritten Reich, usw.).
  5. Kontrolle und Vertiefung. Ein letzter Schritt kann nun darin bestehen, das so erworbene Wissen einer Kontrolle zu unterwerfen. Schreiben von Übungsklausuren unter Zeitdruck, mündliche Abfragen mit Mitschülern oder Verwandten, simulierte Kolloqien und vieles mehr eignen sich dazu, letzte Probleme zu identifizieren und im Austausch Schwächen in der eigenen Argumentation zu erkennen und auszumerzen. Das macht man vermutlich nur in Vorbereitung auf das Abitur, aber es stellt letztlich eine wichtige Wegmarke für sehr gute Ergebnisse dar.
Dieser modulare Aufbau ermöglicht einem Schüler auch, jeweils folgende Punkte wegzulassen, wenn man sich davon überfordert fühlt (was natürlich auf Kosten der maximal erreichbaren Note geht, aber solche Entscheidungen sollten Schüler in der Oberstufe zu treffen in der Lage sein). Ich hoffe, dass dies einigermaßen hilfreich in der Beantwortung der Frage war und auch anderen interessierten Lesern einen Einblick geboten hat.