Germanisten-Kitsch: Zu Bodo Kirchhoffs “Widerfahrnis” (Frankfurter Verlagsanstalt, 2016)

Von Vigoleis01

Situationen der Widerfahrnis, analysiert Bernd Amos, seien “durch das Auftreten einer radikal unverständlichen Befindlichkeit gekennzeichnet”. Der Begriff stammt aus dem Werk Martin Heideggers; im Duden ist er (noch) nicht verzeichnet. Der deutsche Autor Bodo Kirchhoff betitelte seinen jüngsten Text mit dem für viele Zungen wohl ungewohnten Wort – und schob den Untertitel “Eine Novelle” nach. Das wirkt adäquat, scheint doch auf den ersten Blick das nach Goethe sprichwörtliche zentrale Charakteristikum der Novelle, die “unerhörte Begebenheit”, gut zur “radikal unverständlichen Befindlichkeit” der Widerfahrnis zu passen.

Worum geht’s? Julius Reither, unfreiwilliger Frührentner um die sechzig, Generation 68er, ehemals Kleinstverleger, dessen Bücher niemand mehr wollte, ist aufs Land gezogen, wo er rauchend und käse-mit-schinken-umwickelnd einem ungewissen Lebensabend entgegendämmert. Eines Abends steht die etwas jüngere Leonie Palm vor seiner Türe, die Leiterin der lokalen Lesegruppe, auch sie unverhoffte Frührentnerin, und erkundigt sich nach einem Buch, das sie Reither Stunden zuvor aus einem Regal hat ziehen sehen. Reither und die Palm sind bepackt mit unverarbeiteten biographischen Traumata – die tote Tochter, die nicht-gewollte Tochter – , denen sie gegenseitig vorsichtig auf die Spur zu kommen suchen.

Eh man sich aber versieht, sitzen die beiden in Leonies BMW und fahren in Richtung eines Bergsees, wo sie den Sonnenaufgang bestaunen wollen. Doch die Fahrt endet nicht, sie führt weiter über den Brenner nach Italien, quer durch den Stiefel über Bari bis ganz hinab, wo das seltsame Paar mit der Fähre nach Sizilien übersetzt. Bahnt sich ein neuer Frühling der Liebe an?

Auftritt “unerhörte Begebenheit”: sie tritt uns in Form eines Flüchtlingsmädchens gegenüber, das von Julius und Leonie in einem Akt, der weniger wie Adoption, mehr wie Raub wirkt, annektiert wird und für kurze Zeit dieses Trugbild einer Familie komplettiert. Als die beiden sie mitnehmen wollen auf den Rückweg, bricht sie aus, hinterlässt nichts als ihr Schweigen und einen tiefen Schnitt in Reithers Hand.

“Sie beide jedenfalls, die Palm und er, sie bummelten, weil bummeln gelernt sein will, er mit Zigarette in der Hand, sie mit dem kleinen Gerät, mit dem sich so schnell nebenbei ein Foto machen liess, während das Mädchen mit leeren Händen zwischen ihnen ging und nicht recht wusste, wo es hinschauen sollte, als sie an den Läden vorbeikamen mit nichts als Juwelen im Fenster, so schien es, zur Schau gestellt auf Samt oder Marmor, auch wenn es nur Handtäschchen waren, für die man mehr hätte hinlegen müssen als er früher für ein ganzes Buch, vom Vorschuss bis zu den Druckkosten.”

(Danach kommt es zu einer weiteren unerhörten Begebenheit, als Reither, der Leonie kurzzeitig verloren hat, eine nigerianische Flüchtlingsfamilie, Eltern und kleines Kind, bei sich im fremden Wagen aufnimmt und mit ihnen die Rückreise in Angriff nimmt.)

Kirchhoffs gestelzte, in weitschweifigen Schachtelsätzen verirrte Sprache, wirkt auf mich oftmals zäh. Meine Hauptkritik an “Widerfahrnis” aber ist eine andere: der Text ist purer Germanisten-Kitsch. 

Was heisst das? Kirchhoff lässt seine beiden Protagonisten Situationen von unsäglich klischeetriefender Schmonzetten-Romantik durchleben; er weidet diese Situationen genussvoll aus, mit ausführlichem Blick für die banalsten Alltagshandlungen (Literaturkritiker sprechen in solchen Moment oft irreführend von “guten Beobachtern”); er versucht, sich dabei jedoch abseits des geläufigen Kitschs zu positionieren, indem er Reither ein ums andere Mal Reflektionen anstellen lässt: über die gewählten Worte, über die Klischeehaftigkeit der Situationen, und – da läuft jedem Germanisten und sicherlich vielen Kritikern der Speichel sintflutartig im Munde zusammen – über das Erzählen selbst.

Das Problem: es ist und bleibt Kitsch. Gefangen in einer schwermütig drückenden Sentimentalität, vor welcher der Protagonist bisweilen, “die Hände wieder erhoben wie gegen den Wörterdruck”, sprachlos kapitulieren muss.

Mir stellte sich zudem die Frage, was der Text im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Flüchtlingsdiskurs zu leisten vermag. Reither zeigt zwei zentrale Tendenzen in seinen Begegnungen mit Flüchtlingen: zum einen eine scheinbar spontane, unerwartete Grosszügigkeit, zum anderen den Neid. Zunächst beneidet er die Eritreerin, die in seinem Wohnhaus am Empfang arbeitet, darum, “selbst in diesem Tal hier aus dem Staunen kaum heraus”zu kommen, später beneidet er den Nigerianer Taylor um sein “Leben ohne Dach und ohne Bett, ohne Konto und ohne Fürsprache, mit nichts in der Hand ausser Frau und Tochter und dem eigenen Mut”.

Die Flüchtlingsfiguren – die Eritreerin Aster, das stumme Mädchen, die nigerianische Familie – bleiben Nebenerscheinungen im Beziehungstheater der beiden Frührentner, auf deren jede Geste, jedes Haar, jeden Anflug eines schmachtenden Gefühls mehr literarische Energie verwandt wird als auf die Geschichten der Flüchtlinge. Ist das als Kritik an einer mitteleuropäischen Ignoranz gegenüber den geflüchteten Menschen zu verstehen? Nach dem Motto: wenn Flüchtlinge, dann nur, wenn sie dem eigenen Glück zur Vervollkommnung gereichen (Stichwort Raub des Flüchtlingsmädchens zur Komplettierung einer fiktiven Familie)? Ich kann es nicht abschliessend beurteilen – Ironie aber, so der stilistische Eindruck, liegt diesem Text weitgehend fern. Schade.

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