Gerhard Loibelsberger: Die Naschmarkt-Morde

Von Buchwolf

Meine Frau organisierte eine Lesung mit Gerhard Loibelsberger in ihrer Bücherei. Der Wiener Krimi-Autor las in seiner inzwischen legendären schauspielerischen Weise aus dem Kriminalgeschichtenband „Kaiser, Kraut und Kiberer“. Darin spielt Inspector Joseph Maria Nechyba die Hauptrolle, genauso wie in Loibelsbergers „Hauptserie“ von Kriminalromanen aus dem Wien der Zeit von 1900 bis 1918. Davon kaufte ich mir den ersten, „Die Naschmarkt-Morde“, und las ihn gleich, zumal ich ohnehin nach beruflich anstrengenden Tagen dringend eine erholsame Lektüre nötig hatte.

Krimi-Genuss …

Kann man sich bei einem Krimi erholen? Bei einem „Loibelsberger“: Ja. Hier wird nicht Grausamkeit schockierend breitgetrenen, sondern der Mörder beschränkt sich auf unblutiges Um-die-Ecke-bringen seiner Opfer durch Erdrosseln mittels eines eleganten Seidenschals. Unelegant sind da eher die Haupt und Nebenfiguren, die schon gelegentlich kräftig rülpsen und furzen oder nach durchzechter Nacht auch das Klo am Gang (in der Wohnung gab’s damals bei einfacheren Leuten noch kein WC) vollkotzen. Ja, und „Watschen“ werden von Angehörigen aller Gesellschaftsklassen gerne ausgeteilt, manchmal gleich links und rechts. Das gehört zum von Loibelsberger liebevoll, äh… schonungslos ausgebreiteten Lokalkolorit aus dem Wien des Jahres 1903.

mit Liebesgeschichte …

Gelegentlich versinkt aber auch einer in den vollen Brüsten einer zweitklassigen Sängerin vom Theater an der Wien. Und sogar „der Nechyba“, der sich doch genrebedingt eigentlich vorwiegend mit dem Aufklären der ominösen Naschmarkt-Morde beschäftigen sollte, verfällt einem gestandenen Weibsbild, der superben Köchin Aurelia Litzelsberger. Loibelsberger bringt da eine überzeugende Liebesgeschichte zweier Leute zustande, die zum Verlieben eigentlich schon zu alt und zu wenig gefühlvoll sind, nach außen zumindest. Aber gerade deshalb passen sie so gut zusammen.

und Kochkünsten,

Die Köchin in herrschaftlichen Diensten ist beeindruckt davon, dass sie in Nechyba einen Vertreter des männlichen Geschlechts gefunden hat, der ebenfalls kocht, statt nach Wiener Junggesellenmanier ausschließlich im Wirtshaus seine kulinarischen Bedürfnisse zu befriedigen. Kein Wunder, dass in diesem Buch – und in den anderen Nechyba-Romanen natürlich ebenfalls – ein veritables Altwiener Kochbuch versteckt ist. Loibelsberger beschreibt nämlich die Kochvorgänge so genau, dass man – nach seinen eigenen Worten – die Rezepte tatsächlich nachkochen könnte.

Naschmarkt-Feeling,

Dazu wäre es natürlich gut, wenn man in Wien lebte, denn dann könnte man auch die Beschaffung der wesentlichen Ingredienzien auf dem Hauptschauplatz des Romans realiter nachvollziehen: auf dem Naschmarkt.

Für Nicht-Wienkenner: Der Naschmarkt ist damals wie heute ein an den zentralen Karlsplatz angrenzendes Marktgebiet, wo täglich von zahllosen „Standlern“ (mit fest gemauertem oder mobilem Marktstand) alles, was das Herz einer Köchin oder eines Kochs begehrt, vom exotischsten Gewürz bis zum Grundmaterial fürs Beuschl, in höchster Qualität zum Verkauf angeboten wird. Damals stammten die Verkäufer aus allen Gebieten der Donaumonarchie, heute stammen sie zusätzlich noch aus sämtlichen Erdteilen, die sich für die Einwanderung nach Österreich eignen. Ein entsprechendes Sprachengewirr, geradezu orientalische Basarmethoden in der Darbietung der Früchte und sonstigen Waren, ein Meer der interessantesten Gerüche (heute nicht mehr so durchmischt mit weniger angenehmem Gestank von Exkrementen wie in Loibelsbergers Jahrhundertwende-Wien) kennzeichnen den Naschmarkt und machen ihn zu einem Muss auch für Touristen. Heute schließt sich übrigens jeden Samstag südwestlich ans Marktgebiet der größte Flohmarkt der Stadt an, ebenfalls eine Attraktion.

Nechyba wohnt nicht weit vom Naschmarkt in einer kleinen Wohnung mit Wasser am Gang – der berühmten „Bassena“ (also einem viertelkugelförmigen emaillierten metallenen Wasserbecken mit Kaltwasserhahn, aus dem das berühmte, wunderbar schmeckende Wasser aus der 1873 in Betrieb genommenen Ersten Wiener Hochquellenleitung sprudelt). Nechyba selbst ist auch ziemlich kugelförmig, trotzdem aber durchaus agil. Nur eben dem Essen zugetan, von früh bis spät.

Kaffehaus-Atmosphäre …

Da man als Polizeiinspector aber nicht ununterbrochen selbst kochen kann, spielt auch die Wiener Gastronomie im Roman eine bedeutende Rolle. Und davon wiederum vor allem die Kaffeehäuser, konkret: das Sperl in der Gumpendorferstraße und das Landtmann neben dem Burgtheater. Beide heute noch bestehend. Der Kaffeehausbetrieb der damaligen Zeit wird mit größter Sachkenntnis, die Loibelsberger sich bei seinen minutiösen, jahreslangen Recherchen für seinen Erstling angeeignet hat, geschildert. Allein die Zahl der möglichen Varianten der Kombination von Kaffee und Milch und „Schlag“ (=Schlagsahne) ist beeindruckend. Auch „mit Haut“ (gemeint ist: Milchhaut) ist darunter, dafür muss man schon ein masochistischer Kaffeetrinker sein, um so etwas zu bestellen… Heute gibt’s „mit Haut“ nicht mehr, aber vieles, was Loibelsberger beschreibt, kann man heute natürlich noch genauso in Wiener Kaffeehäusern, die auf Tradition halten, erleben, insbesondere die selbstherrlichen Kellner.

Im Kaffeehaus trifft sich das Stammpersonal der Loibelsberger-Krimis zum Frühstück, zum Kartenspielen oder zum Austausch vertraulicher Informationen. Das sind neben Nechyba zum Beispiel der Redakteur Goldblatt, der Scharfrichter Lang oder – aus Standesgründen weniger zum Kartenspielen – der Graf Borowicz (im Roman der Unglücksbringer).

und originellen Gestalten:

Am Naschmarkt kreuzen darüber hinaus die als Mörder in Frage kommenden Gestalten und die echten Mordopfer auf. Als Letztere zum Beispiel eine Gräfin auf Abwegen und ein Dienstmädchen, das ganz unschuldig „drankommt“. Und Erstere sind hochoriginelle, saftige Figuren: erstens der Fleischhauersgeselle Schöberl, ein brutaler Weiber-Nachsteiger, der unwillige Dienstmädchen schon auch mal öffentlich verprügelt (aber ein „Würger“ sei er nicht, beteuert er beim Verhör dann unter Tränen), und zweitens der Horoskopverkäufer Gotthelf mit seinem frechen Papagei.

Übrigens, das sei hier auch erwähnt, sind dem Roman sowohl als Fußnoten wie auch als Glossar Erklärungen der Wörter beigegeben, die nicht im ganzen deutschen Sprachraum ohne weiteres verständlich sind.

Lokalkolorit vom Feinsten

Warum also Loibelsberger lesen? Nur zur Erholung? Nein: Auch, weil man auf wirklich gelungene Weise das Wien von vor hundert Jahren vor Augen geführt bekommt. Kaum ist man auf Seite 271, wo „Ende“ steht, angelangt, weiß man: Es würde sich auszahlen, weitere Loibelsbergers zu lesen. Deren es zum Glück inzwischen eine ganze Menge gibt.

Gerhard Loibelsberger: Die Naschmarkt-Morde. Ein Roman aus dem alten Wien. Gmeiner-Verlag, Meßkirch, 2009. 274 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Gerhard Loibelsberger liest vor. Schwarzer Buntstift. 2015. Gezeichnet bei der Loibelsberger-Lesung in der Bücherei & Mediathek Laxenburg.