“Junge Welt”, 21.11.2011
Mit der Eskalation der »Schuldenkrise« intensivieren sich die zwischenstaatlichen Machtkämpfe in der EU – hierdurch werden die Zerfallsprozesse in der Euro-Zone beschleunigt
Berlin weigert sich weiterhin, trotz einer Zuspitzung der europäischen Schuldenkrise die Aufkäufe von Anleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) auszuweiten. Nach einer desaströs verlaufenen Auktion spanischer Staatsanleihen, die Madrid anstatt der angepeilten vier nur 3,6 Milliarden Euro einbrachte, wandte sich der bisherige spanische Regierungschef Zapatero in einem öffentlichen Appell an Berlin und die EZB, endlich die »gemeinsame Währung zu verteidigen«. Deutschland ziehe zwar »gewisse Vorteile« aus der gegenwärtigen Situation, doch drohe die »gesamte Euro-Zone einschließlich Deutschlands von der Krise« erfaßt zu werden. Forderungen nach mehr EZB-Aufkäufen wurden in den letzten Tagen auch von der französischen und britischen Regierung erneuert.
Demgegenüber betone Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zuletzt am Mittwoch, daß das für Berlin aus rechtlichen Gründen nicht in Frage komme: »Wir sehen die Verträge so, daß die EZB keine Möglichkeit hat, die Probleme zu lösen.« Bundesbankpräsident Jens Weidemann behauptete laut Financial Times sogar, daß die hohe Zinsbelastung der südeuropäischen Länder wünschenswert sei, um diese zu einer brutalen Sparpolitik zu nötigen: »Du wirst die Krise nicht lösen, wenn du die Anreize zum Handeln für die italienische Regierung reduzierst.«
EZB als politischer Hebel
Tatsächlich scheint es so, als ob die EZB in letzter Zeit die Aufrechterhaltung eines hohen Zinsniveaus – und somit des Spardrucks – bei den europäischen Schuldenstaaten fördert. Laut FAZ vom 18. November wächst innerhalb der EZB der »Widerstand« gegen das ohnehin bescheiden dimensionierte Aufkaufprogramm. Eine interne wöchentliche Grenze für die Aufkäufe von Staatsanleihen sei demnach auf nur noch 20 Milliarden Euro gesenkt worden. Gerade in der Woche, als der EU-Apparatschik Mario Monti aufgrund eines eskalierenden italienischen Zinsniveaus auf den Posten des italienischen Regierungschefs gehievt wurde, beliefen sich die Anleiheaufkäufe der europäischen Notenbanken auf nur 4,5 Milliarden Euro – in der Vorwoche waren es noch 9,5 Milliarden.
Es war diese von Berlin erfolgreich betriebene Oktroyierung einer knallharten Austeritätspolitik in der Euro-Zone, die den CDU-Franktionschef Volker Kauder zu der berüchtigten Formulierung veranlaßte, in Europa werde nun »deutsch gesprochen«. Berlins Pläne für ein »deutsches Europa« reichen aber noch viel weiter und sehen neben der EU-weiten Einführung von »Schuldenbremsen« nach deutschem Vorbild auch Änderungen der EU-Verträge vor, die letztlich die europäischen Schuldenstaaten ihrer haushaltspolitischen Souveränität berauben würden. Ein »EU-Sparkommissar« soll laut Merkel mit »Durchgriffsrechten« ausgestattet werden, um in die Haushaltspolitik europäischer Schuldenstaaten – an den nationalen Parlamenten vorbei – eingreifen zu können.
Neben den Forderungen nach einer Finanztransaktionssteuer waren es eben diese offenen Dominanzansprüche Berlins, die zu den Verstimmungen zwischen Deutschland und Großbritannien beigetragen haben. Selbst seriöse britische Zeitungen wie The Independent titelten, Berlin ziehe spätestens seit Schäubles Äußerungen über einen möglichen Beitritt Englands zur Euro-Zone die »Daumenschrauben« an. Inzwischen gehen auch US-Medien zur scharfen und direkten Kritik der BRD über. Berlins europäische Partner hätten die »klaffende Lücke zwischen ihren Mühen und Deutschlands Stärke« wahrgenommen, schrieb die New York Times. Das US-Leitmedium ließ zugleich Berlins Bestrebungen kritisieren, »ganz Europa« nach dem deutschen »exportgetriebenen Wirtschaftsmodell« umzuformen, ohne »den Zusammenhang zwischen den eigenen Erfolgen und der ausländischen Verschuldung in Ländern wie Griechenland zu verstehen, die sich verschuldeten, um deutsche Waren zu kaufen«. Nicht jeder könne wie Deutschland sein, hieß es in der New York Times, die »Welt als Ganzes handelt ja nicht mit dem Mond«.
Massive Kapitalflucht
Während Berlin die Schuldenkrise zur Festigung der deutschen Dominanz in Europa nutzen will und damit international zunehmend in die Kritik gerät, droht die sich zuspitzende Krisendynamik in der Euro-Zone außer Kontrolle zu geraten. Neben Spanien kamen Mitte vergangener Woche auch Länder des Zentrums der Euro-Zone aufgrund steigender Zinsen unter Druck. So vergrößerte sich am Dienstag der Zinsabstand (Spread) zwischen zehnjährigen deutschen Bonds und den Staatsanleihen aus Frankreich, Österreich, den Niederlanden und Belgien und erreichte neue Rekordwerte. Dieses drohende Übergreifen der Krise auf das Zentrum der Euro-Zone wird von einer massiven Kapitalflucht aus den Märkten für europäische Staatsanleihen und Bankverbindlichkeiten befördert.
Die innereuropäischen Auseinandersetzungen gleichen somit einem Machtkampf auf der bereits sinkenden »Titanic« des europäischen Währungsraums. Dabei könnte die von vielen keynesianischen Ökonomen wie Paul Krugman geforderten massiven Aufkäufe von Staatsanleihen tatsächlich die Lage kurzfristig entschärfen, indem sie die Zinslasten in der Euro-Zone senken und die Kapitalflucht eindämmen. Doch diese kurzfristige Entschärfung der objektiven Systemkrise des Kapitalismus ginge mit einem ansteigenden Inflationsniveau einher. Die gegenwärtige Krise des kapitalistischen Systems – das aufgrund andauernder Produktivitätsschübe nur noch vermittels schuldengenerierter Nachfrage reproduktionsfähig bleibt – kann weder durch Sparterror noch durch Gelddruckerei überwunden werden. Die Krise ist nur jenseits des Kapitalismus lösbar.