Genazino: Fremde Kämpfe

Von Annadreher

Die entfremdete Wirklichkeit in Wilhelm Genazinos Fremde Kämpfe

In seinem vierten Roman Fremde Kämpfe lässt Wilhelm Genazino seinen Protagonisten Wolf Peschek eine Erfahrung machen, die als typisch gelten kann für den Beginn der achtziger Jahre: Die Entdeckung, in einem doppelten Zeitsystem zu leben. Schreitet auf der einen Seite die Entwicklung sowohl auf technischem als auch auf kulturellem Gebiet immer schneller voran, so bleibt doch auf der anderen Seite der Geist und das Selbstverständnis der Individuen in der langsam und träge voranschreitenden Zeit des Alltagstrotts verhaftet.[1] Während auf einer großen, kaum fassbaren Ebene der Weltgeschichte oder der Weltzeit eine unglaubliche Akzeleration stattfindet, verläuft die individuell erlebte Lebenszeit noch immer in denselben geordneten Bahnen, der Alltag bleibt sich in der Struktur und im Ablauf gleich. Die Erschütterungen der Zeit (S. 7)[2] bleiben der individuellen Wahrnehmung verborgen, entziehen sich einer direkten, nachvollziehbaren Manifestation und damit dem Verständnis des Einzelnen. Als Folge scheint die Wirklichkeit ihre Sinnhaftigkeit verloren zu haben, da sie sich der individuellen sinnlichen Wahrnehmung vorenthält, sich dem Individuum nicht offenbart.

Fremde Kämpfe ist durchzogen von Pescheks Suche nach Zeichen, nach Offenbarungen, nach Manifestationen dessen, was er einerseits als Wahrheit anerkennen muss, andererseits aber nicht selbst zu beobachten in der Lage ist: Noch in diesem Jahr wird es vermutlich zwei Millionen Arbeitslose geben, sagte ein Nachrichtensprecher. (S. 15) Die wirtschaftliche Lage ist schlecht und Peschek, freier Werbegrafiker, fürchtet um seine berufliche Zukunft, ohne allerdings die objektive Wahrheit auch subjektiv konstatieren zu können: Die neuen Armen sind unsichtbar, die Arbeitslosen stehen nicht bettelnd auf der Straße und die Institution der Volksküchen (S. 23) ist aus der Mode gekommen. Peschek erscheint geradezu als ein Relikt aus einer anderen Zeit: Ohne die aktuelle Situation verstehen zu können, trauert er nostalgisch seiner Kindheit nach, als, zumindest in seiner Vorstellung, die Lebenssituation einfacher und klarer war:

Als er Kind war, hatte es Tomaten in Hülle und Fülle gegeben. In jedem staubigen Vorgarten hingen die dicken roten Bollen an dunkelgrünen Stauden, meistens so viele, daß die Ernte eine Belästigung war. Und das sollte vorbei sein? In diesen Augenblicken verstand er etwas von den schlechten Zeiten: Er konnte sie sich nicht erklären. (S. 93)

Die Unnachvollziehbarkeit wird zum einzigen von Peschek wahrgenommenen Charakteristikum der Realität. Die Darstellung der Oszillation der verschiedenen Zeitordnungen erreicht an dieser Stelle ihren Höhepunkt: Der langsame Lebensrhythmus, den Peschek noch aus seiner Kindheit kennt, kollidiert mit dem hektischen Rhythmus der Stadt und wirft Peschek dabei völlig aus der Bahn:

Der Anblick des Ladens löste in Peschek den ‚Totalverdacht’ aus: ein Einschnürungsgefühl, das ihn glauben machte, bald überhaupt nichts mehr verstehen zu können. Und das erste, was er nicht verstand, war die Zeit, in der er lebte: Es gab zwei Millionen Arbeitslose, aber es wurden keine Volksküchen eröffnet, sondern rätselhafte Schwulenläden, die keinen einzigen Arbeitslosen satt machten. (S. 53)

Ökonomische Zusammenhänge erschließen sich Peschek nicht, die Mechanismen des Kapitalismus bleiben für ihn unverständlich. In seiner Reflexion stellt Peschek zwei völlig zusammenhangslose Dinge gegenüber: Ein den kapitalistischen Gesetzen gehorchendes und damit Arbeit schaffendes Geschäft, das er aufgrund seiner speziellen Waren als ‚Schwulenladen’ bezeichnet, und die Institution der Volksküche, die völlig veraltet ist. Peschek allerdings ist sich dieses Widerspruchs nicht bewusst, im Gegenteil, seine Reflexion versetzt ihn sogar in einen Zustand, den er mit ‚Totalverdacht’ bezeichnet: Ein Zustand des Misstrauens gegenüber der Gesellschaft, der Realität, ja, des gesamten Lebens. Dieses Unverständnis gegenüber der äußeren Welt löst in Peschek eine Distanzierung aus, die dann verstärkt wird durch die Erfolglosigkeit seiner Suche: Das Fehlen von Zeichen verstört Peschek und es gelingt ihm nicht, in der Realität den Spiegel seiner inneren Konflikte auszumachen. Diese Diskrepanz zwischen seiner inneren Emotionalität und der äußeren Wirklichkeit treibt Peschek in eine distanzierende, reflektierende Position, aus der heraus er seine Umwelt betrachtet und, anstatt sie als Lebensraum anzuerkennen, klassifiziert und kategorisiert: Er erstellt eine Liste der großen Abscheulichkeiten (S. 63), eine Liste der großen Annehmlichkeiten (S. 67), eine Rangliste von drei Härtegrade[n] (S. 166) und eine Unterschicht-Farbentheorie (S. 80). All diese Mechanismen helfen Peschek, die Realität in für ihn nachvollziehbare, weil greifbare Termini zu übersetzen, fördern allerdings auch seine Distanzierung und Entfremdung von ihr: Er zieht sich aus ihr zurück, nimmt eine Beobachterposition ein und wird so zu dem Außenseiter, als der er schon auf der ersten Seite vorgestellt wird: Wolf Peschek saß in einem Café und starrte durch die Scheibe hindurch auf die Straße. (S. 7) Die Fensterscheibe als trennendes Element verdeutlicht Pescheks Situation: Er ist ein Einzelkämpfer, ein Außenstehender und ein Beobachter. Wie von einer fernen Warte aus betrachtet er die Welt. Die Lebenswelt wird Peschek so fremd, dass er sie kaum strikt von der Fiktion trennen kann. Häufig nimmt er das Leben als falsch gefilmte[] Behauptung (S. 19) wahr, vermischt reale Geschehnisse mit Filmen oder stellt mit Dagmar Filmszenen nach. In der Tat unterscheidet die Rolle eines Fernsehzuschauers sich gar nicht so sehr von der Beobachterrolle Pescheks: die Rolle eines Unbeteiligten, eines Betrachters ohne Einfluss auf das Geschehen. Gefangen in seiner Passivität verfügt Peschek über keinerlei Kontrolle über seine Lebenssituation. Sein Versuch, die Kontrolle zu übernehmen, aus der passiven Beobachterrolle in eine aktive Agensrolle überzuwechseln, scheitert kläglich an Pescheks Unfähigkeit zur Organisation, Disziplin und Selbstbestimmung. Der Pelzhandel kommt nicht in Gang, aus einem ganz einfachen Grund: Peschek ist unfähig, sich selbst einen Arbeitsalltag zu organisieren, er ist unfähig, ohne genaue Vorgaben, ohne den Druck von oben vernünftige Arbeit zu leisten. Obwohl er als freier Werbegrafiker eigentlich selbstständiges Arbeiten gewöhnt sein müsste, ähnelt sein Arbeitsstil doch stark dem der früheren Protagonisten Genazinos: der Angestellten. Auch Peschek erhält genaue Arbeitsanweisungen, Abgabetermine und Vorgaben. Er hat einen Vorgesetzten, seinen Auftraggeber, dem er Rechenschaft ablegen muss und er manifestiert eine prinzipielle Arbeitsunlust (S. 36); von künstlerischen Freiheiten und von Selbstbestimmung bzw. Selbstständigkeit keine Spur. Und anstatt nun die Gelegenheit, mit dem Pelzhandel eine echte Selbstständigkeit zu erreichen, auszunutzen, begibt Peschek sich nur in immer weiter reichende Abhängigkeiten, indem er sich bei der Bank und bei seiner Freundin, Dagmar Achatz, Geld leiht. Anstatt seine Situation zu verbessern, verschlechtert er sie nur. Auch seine Reflexionen, seine Phantasien, die bisher die ganz klare Funktion hatten, die Wirklichkeit für Peschek zu simplifizieren, kehren sich nach und nach in ihr Gegenteil um: Sie verstärken Pescheks Zukunftsangst, die sich zu einer waschechten Paranoia steigert:

Wahrscheinlich war ein Beobachter hinter ihm her und wartete nur darauf, daß Peschek das Pelzversteck aufsuchte. Augenblicklich konnte Peschek alle Menschen, die hinter ihm gingen, nicht mehr ertragen. [...] Er sehnte sich nach starken Abwehrborsten, die ihm aus dem Rücken herauswachsen sollten. Statt dessen schossen aus seinen Ohren lange Angstantennen hervor, die allen Verfolgern anzeigten, wo er gerade ging. (S. 187f)

Der Versuch, aus der Beobachterrolle auszubrechen, ist insofern geglückt, dass Peschek nun nicht mehr in der Lage ist, seine Distanz zur Wirklichkeit zu wahren. Im Gegenteil greift diese mit einer solchen Macht nach ihm, dass er sich ihren Eindrücken nicht entziehen kann, zum Treibball der Impressionen wird und insofern noch weniger Kontrolle über sich selbst und die Welt um sich herum ausübt, als vorher. Pescheks Position hat sich somit in ihr Gegenteil verkehrt: Anstatt, wie vorher beschrieben, die Welt wie aus der Ferne, von einer (bildlich durch das Fensterglas dargestellten) abgetrennten Beobachterposition wahrzunehmen, befindet er sich nun im Strudel der Ereignisse selbst. Die Beobachterrolle hat sich verkehrt in die Rolle des Beobachteten:

Peschek glaubte sogar, die Stimme des Fremdenführers zu hören: Und rechts von Ihnen, Damen und Herren, dort an der Mauer, sehen Sie einen frisch Ausgeklinkten. [...] In den Augenblicken des Besichtigtwerdens wandelte sich Pescheks Scham in eine Schande um. [...] Er senkte den Blick und wußte, daß er selbst zu einem der Zeichen geworden war, nach denen er so lange gesucht hatte. (S. 222f)

Peschek ist somit von seiner an sich schon passiven Position in eine noch passivere Rolle geschlüpft. Anstatt zu beobachten, wird er nun besichtigt, anstatt zu suchen, wird er gefunden. Seine Suche hat ein Ende gefunden, ihr Ziel erreicht: Peschek selbst hat sich transformiert in eine Manifestation der objektiven Wahrheit, die sich ihm als so unfassbar präsentiert hatte.


[1] Zur doppelten Zeitstruktur vgl. Jung, Werner: Alltag und Ekstasen. In: Neue Generation – neues Erzählen: Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre. Hrsg. v. Delabar, Walter u. a., Opladen 1993, S. 159f.

[2] Alle in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf Genazino, Wilhelm: Fremde Kämpfe. München 2004

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