Nach dem Überraschungserfolg ihres Romans Das Blütenstaubzimmer (1997) wurden Zoë Jennys folgende Romane einstimmig im Feuilleton verrissen. Wie (un-)angebracht diese Kritiken sind, kann ich nicht beurteilen, da ich seit dem Debüt nichts mehr von ihr gelesen habe. Umso erstaunlicher und mutiger ist es, dass sie dennoch weiterschreibt, das Genre verlagert und im Herbst 2013 einen Erzählband veröffentlicht hat.
Spätestens morgen versammelt 12 Geschichten von Aufbrechern, Träumern, Regelbrechern, Familienvätern, erdrückender Liebe, neuer und verlorener Liebe sowie drei Chinesinnen, die dafür arbeiten, eines Tages Shanghai zu verlassen und auf Weltreise zu gehen.
Zoë Jenny verknüpft Orte wie Basel, München, den Rhein und London mit den Sehnsüchten ihrer Protagonisten und zeichnet dabei Bilder mit wenigen, feinen Linien, die das Alltägliche zum Leuchten bringen:
Aya und Muto tippten sich an die Stirn und lachten gegen den Wind.
Schon seit Wochen scheint die Sonne, ohne zu wärmen, von einem festgefrorenen blauen Himmel herab und auf die Stadt.
Ihre Geschichten befinden sich mitten im Jetzt und bleiben trotz der Umbrüche, die sich andeuten, mit einem Hauch Melancholie stets in der Gegenwart verwurzelt. Sehr gut gewählt ist zudem die Reihenfolge der Geschichten, die mit der Ballade vom Rhein einen wunderschönen Abschluss findet – eine Hommage an eine besondere Liebe und an die Geburtsstadt der Autorin zugleich:
In Basel wurden wie wieder angeschwemmt. Wie Treibholz. Du und ich. Ich ziehe weiter. Rastlos. Deine Anrufe, wie Bitten. Wo bist du?, fragst du, und es klingt wie ein Rufen in die Ferne. Es ist, als rufst du dir selber zu. New York. Berlin. London.
Fazit
Zoë Jenny malt mit ihrem Erzählband Spätestens morgen eine Reihe stimmungsvoller Gemälde und beweist mit ruhiger Pinselführung ein Gespür für Worte für den Augenblick. In ihren Geschichten gibt es zwar ein Morgen, aber es ist wie ein Licht, das durch den Türspalt scheint und am Ende des Tages verblasst – und alles, was bleibt, ist das Jetzt.