Im Sommer 2001 reist Juli Zeh durch Bosnien-Herzegowina – alleine, nur begleitet von ihrem Hund. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 27, befindet sich zwischen Jurastudium und ihrem Abschluss am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, gerade ist ihr erster Roman Adler und Engel erschienen. Anlass für ihren Reisebericht ist der Bosnienkrieg in den 90er Jahren.
Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob er zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist. (S. 11)
Bosnien-Herzegowina strebte nach Unabhängigkeit von Jugoslawien – zwischen 1992 und 1995 kam es deshalb zu blutigen Auseinandersetzungen mit der serbischen Bevölkerung. Sechs Jahre nach Kriegsende reist Juli Zeh durch das Land, will wissen, warum Krieg war, und welche Ethnie gegen welche. Mit Bus, Zug und Mietwagen erreicht sie Städte wie Travnik, Mostar, Tuzla und Sarajevo.
Zagreb empfängt mich mit so weit ausgebreiteten Armen, dass mir schwindelt, während ich mich hineinfallen lasse. Die Stadt kann gucken, als hätte sie einen schon immer vermisst. (S. 13)
Chronologisch erzählt sie in ihrem auto-fiktiven Bericht von der Landschaft, der Hitze, ihren Unterkünften und Begegnungen mit anderen Menschen. Zum Verständigen entwickelt sie Endepol; eine Mischung aus englisch, deutsch und polnisch. Sie ist nicht wie eine Reporterin unterwegs, die die Menschen dort interviewt oder Grausamkeiten schildert – Nein, sie lässt das Land auf sich wirken und dokumentiert alles sehr detailreich und atmosphärisch.
Dann sitzen wir unter Pflaumenbäumen. Zwei Frauen tragen einen Kessel aus dem Haus, der Kaffee wird wie Suppe in die Tassen geschöpft. Süß und stark und ohne Milch. Der Esel kreischt, die Westeuropäer sind damit beschäftigt, die Osteuropäer am Nachfüllen der Schnapsgläser zu hindern […]. Wir reden über Sonne, Wasser und Pflaumenwein, niemand fragt mich, woher ich komme und was ich mache, es spielt keine Rolle. (S. 111)
Es ist, als würde man Schritt für Schritt zusammen mit Juli Zeh das Land erkunden, sie setzt kein umfangreiches Hintergrundwissen voraus. Vieles erfährt sie und der Leser ohnehin erst währenddessen.
Jetzt ist es amtlich, ich kann nicht schlafen. Manchmal hilft Ehrlichkeit: Es liegt nicht an der Klimaumstellung. Bei Tag, in der Stadt, gibt es ihn nicht, diesen Krieg. […] Er kommt bei Nacht, wenn ich in einem kleinen, zu gut ausgestatteten Zimmer liege […], wo ich in einem Buch lese über vergewaltigte Kinder, abgeschnittene Geschlechtsteile, Massenerschießungen und die Minuten davor, über brennende Häuser und den Geruch in den Lagern. Seit Tagen gelingt es mir nicht mehr, das Böse als Ausnahme von der Regel des Guten zu begreifen. Stattdessen schalten die beiden Seiten sich beliebig ein und aus, abwechselnd, wie zwei Funktionen eines Schalters mit Wackelkontakt. (S. 94)
Die ruhigen, nachdenklichen Momente sind die stärksten des Berichts; leider verlieren sie sich manchmal in Halbgedanken, die nicht weiter ausgeführt werden. Das wiederum zeigt, dass es mehr Tagebucheinträge als Reiseberichte sind. Man spürt beim Lesen das Gefühl des Unterwegsseins, die vielen Eindrücke, Gedanken, die wandern und nicht verortet sind – auf der Durchreise sind. Genau darin steckt die große Wirkung: Der Bericht stimmt nachdenklich und man ist wie erschlagen von der gedanklichen Reise, von den vielen Informationen und sprachlichen Bildern. Durch die Fülle an Details hat der Bericht durchaus seine Längen und wirkt auf Dauer gleichförmig und manchmal ermüdend.
Fazit
Die Stille ist ein Geräusch ist ein ungewöhnliches und literarisches Reisetagebuch, das vor allem sprachlich beeindruckt. Es unterhält trotz seiner Längen und erschöpft den Leser, der auf dieser gedanklichen Reise durch Bosnien-Herzegowina viele Eindrücke verarbeiten muss, Gedanken zu Ende führen muss und sie dabei vielleicht für sich beantworten kann.
Obwohl Juli Zehs Bericht 12 Jahre alt ist, bleibt er aktuell. Denke ich an Konflikte, Bürgerkriege oder Anschläge in Nahost und anderen Regionen, so scheint alles einem ähnlichen Prinzip zu folgen. Geschichte wiederholt sich. Auf eine Postkarte schreibt sie: “Bin in Mostar. Hier ist es auch nicht anders als anderswo” und vielleicht hat sie damit recht. Es gibt keine klaren Antworten – Juli Zeh lässt Widersprüche zu, ebenso wie Schattierungen zwischen schwarz und weiß. Letztendlich geht es nicht um Begriffe wie Krieg oder Frieden, letztendlich geht es immer um Menschen.
[…] und ich denke, dass der Frieden manchmal, rein optisch, dem Krieg zum Verwechseln ähnlich sieht. Zumindest bei Nacht. (S. 263)
Für weitere Informationen gibt es hier ein Interview über ihre Fahrt durch Bosnien sowie eine eigene Internetseite zu Die Stille ist ein Geräusch mit Bildern und Hintergrundinformationen zu ihrer Reise – gut geeignet als Lektürebegleitung.