Gelesen – Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Von Wortgalerie

„Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns“, heißt es bereits im Film Magnolia – ein Thema, das bis heute ein existenziell menschliches ist. Das vermeintliche Abschließen von Dingen, von Abbrüchen und Neuanfängen, in einem Leben, das immer weitergeht, ist oft mehr (Selbst-)Täuschung als wir uns eingestehen. Dieser Illusion erliegt ebenso Tsukuru Tazaki, der im Mittelpunkt von Murakamis Romans steht.

Während seiner Schulzeit gehörte er einem Freundeskreis an, „den farbigen vieren und dem  farblosen Tsukuru Tazaki“ – so nannten sie sich scherzhaft, denn außer Tsukuru trägt jedes Mitglied eine Farbe in seinem Nachnamen. Sie ergänzten sich wunderbar und unternahmen alles zu fünft. Plötzlich und ohne Begründung brachen die vier den Kontakt zu Tsukuru ab. Er nahm es hin, litt im Stillen und lebte sein einsames Leben. Erst durch das Drängen seiner neuen Bekanntschaft Sara, in die er sich verliebt hat, begibt er sich auf die Suche nach Antworten – 16 Jahre später. Sara sagt ihm: „Ich würde gern mehr über die vier erfahren. Die Menschen, die dir noch immer in den Knochen stecken“ – und damit liegt sie richtig, denn Tsukuru hat den Schmerz der Vergangenheit nur vermeintlich überwunden.

In bekannter und gekonnter Weise entwirft Murakami das (Studenten-/Arbeits- und Liebes-)Leben und die Gedanken eines Einzelgängers, eingebettet in den wirtschaftlichen Aufstieg japanischer Präfekturen und Städte in den 60er Jahren. Damit ist Murakami näher an seinen Romanen Naokos Lächeln und Gefährliche Geliebte als an seinem jüngsten Epos 1Q84 sowie Kafka am Strand oder Mister Aufziehvogel. Diese Unterteilung lässt sich auf den unterschiedlichen Umgang des für Murakami typischen Verhältnisses von Realität(en) und Träumen zurückführen. In den Pilgerjahren gibt es lediglich surrealistische Anklänge, während in den drei letztgenannten Romanen die Existenz einer Traum- bzw. Parallelwelt deutlich ausgeprägter ist und die Grenzen zur Realität zunehmend verwischen.

Die schrittweise Auseinandersetzung mit Tsukurus Vergangenheit und seinen ehemaligen Freunden gibt dem Roman eine angenehme Lesestruktur, ohne dabei vorhersehbar zu sein. Begleitet von klassischer Musik – den Pilgerjahren (Années de pèlerinage) von Franz Liszt –, die Tsukuru während seiner einsamen Jahre hört, und der wiederkehrenden Erinnerung an ein unheimliches Ereignis, wird die Atmosphäre des Romans (und Tsukuru als Figur) besonders greifbar und wandelt von düster, unbehaglich zu erhellend und befreiend. Mit seinen natürlichen Dialogen und seiner schlichten Sprache erzeugt Murakami einen Erzählton, der die Handlung trägt und ihr gleichzeitig Tiefe verleiht.

Im Laufe unseres Lebens entdecken wir immer mehr von unserem wahren Ich. Und je mehr wir davon entdecken, desto mehr geht uns verloren.

Fazit

Murakami komponiert in seiner gewohnten Partitur das Lied eines Mannes auf der Suche nach sich selbst – ohne dabei die Melodie seiner alten Lieder nachzuspielen. Die Antworten, die er dabei gibt, sind genauso überzeugend wie berührend und machen die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki zu einem äußerst lesenswerten Roman.