Die Mitbewohner Rea und Konrad verbindet eine besondere Freundschaft:
Ich stellte Konrad als einen Freund vor, das irritierte den Kaffeetisch. Auch dass wir zusammen wohnten, aber uns nicht an den Händen hielten. Dass wir in einem Bett schliefen, uns aber nicht küssten. Das sagten wir nicht, das spürten sie. (S. 93)
Doch als Konrad eine neue Freundin hat, Reas Vater im Krankenhaus liegt und beide immer seltener in der WG sind, steht nach ein paar Wochen so viel zwischen den beiden, dass sie kaum mehr miteinander reden können:
Ich war so erschöpft die ganze Zeit und wollte mich doch einfach nur anlehnen an Konrad und mich freuen für ihn, aber seine links Schulter war aus Beton und an der rechten lehnte Isabel, also blieb ich, wo ich war, und auch dort war es schon mal gemütlicher gewesen. (S. 122)
Es geht hier nicht um die eine große Handlung, sondern um die Details und die Episoden, die Rea widerfahren. Im Zentrum steht, dass sich Rea mit Ende 20 fragt, wann sie eigentlich erwachsen geworden ist, weil sie sich nicht in der Lage fühlt, sich angemessen zu verhalten oder Entscheidungen zu treffen. Die vielen Veränderungen und Verluste der letzten Wochen zeigen ihr, dass Familie und Freunde ihr keinen Halt mehr geben können:
Das Leben riecht so fremd, obwohl es mir gehört. (S. 236)
Selten habe ich einen sprachlich so lebendigen Roman gelesen. Assoziative Rückblicke, treffende Bilder und ein schöner Sprachrhythmus:
[…] ich wusste, dass es bis zur Tankstelle ein halbes Lied dauerte, wenn man zu Fuß unterwegs war, ich wusste, dass man das Lied danach sorgsam auswählen musste, denn das Lied danach würde das Lied sein, bei dem das Krankenhaus sichtbar wurde, es würde das Lied sein, zu dem man durch die Drehtür ging und am Ende des Flures schon die Tür zu Kapelle sah, solche Lieder musste man gut auswählen, sonst brach man sich mitunter das Herz […] (S. 59)
Mein einziger Kritikpunkt betrifft die Komposition des Romans: Er beginnt mit einer Extremsituation, in der Rea ängstlich und traurig durch Nizza irrt. Die eigentliche Reise nach Nizza wird erst nach der Hälfte des Romans erzählt; das wiederum beeinflusst den Erzählrhythmus, entschleunigt, und wirkt im Blick auf das Gesamtwerk nicht stimmig. Dramaturgisch gesehen wäre Reas Nacht in Nizza an der chronologischen Stelle besser platziert, da er der Höhepunkt des Romans und gleichzeitig ihr seelischer Tiefpunkt ist. Das wiederum hätte das Ende des Romans plausibler erscheinen lassen, weil der Leser näher an Reas Gefühlswelt und nicht seitenweise davon entfernt gewesen wäre. Denn nach Reas Rückkehr von Nizza geht alles ziemlich schnell und sie trifft endlich eine Entscheidung. Dennoch lässt der Roman den Leser mit dem Gefühl zurück, dass Rea die richtige Entscheidung getroffen hat.
Fazit
Bist du noch wach? hat mich vor allem sprachlich sehr beeindruckt. Auf jeder Seite überzeugt die Wahl der Worte, der Fluss der Worte, die sich so angenehm lesen lassen, und die vielen Bilder und treffenden Beschreibungen, die mir sehr ans Herz gegangen sind. Der Roman hat ein hohes Identifikationspotenzial und bewegt sich inhaltlich sehr nah an meiner eigenen Lebenswelt und ich nehme an, dass ich mit dem Gefühl nicht alleine bin. Insofern ist Bist du noch wach? das Porträt (m)einer Generation und bringt so subtil auf den Punkt, was wir fühlen, aber nicht in Worte fassen können.
Vielen Dank an den Berlin Verlag für das Rezensionsexemplar.