Gelesen – Elif Shafak: Ehre

Von Wortgalerie

Was bedeutet Ehre in unserer heutigen Zeit und was im Nahen Osten? Lässt sich verlorene Ehre durch einen Mord wiederherstellen? Bereits nach den ersten Seiten wissen wir, dass Iskender seine Mutter Pembe getötet hat, um die Familienehre wiederherzustellen. Sie ist ein Verhältnis mit einem anderen Mann eingegangen – und fällt einer von ihnen in Ungnade, dann bringt es der gesamten Familie Schande. Der Roman Ehre erzählt von Hintergründen, Vergangenheit und Gegenwart der Familie Toprak, die in einer fremden Kultur nach ihren eigenen Traditionen leben – und zeigt, dass die eigene Herkunft nicht nur Halt gibt, sondern auch einengt.

In den 1970er Jahren verlassen Pembe, ihr Mann samt den drei Kindern ihr kurdisch-türkisches Dorf am Euphrat, um in London zu leben. Sie wirken unvorbereitet, stolpern naiv in ein fremdes Umfeld – der unterschwellige Rassismus ist ihr täglicher Begleiter.

So splittert das Miteinander der Familie langsam auseinander: Die Kinder sind empfänglich für Subkulturen, schließen sich Hausbesetzern oder charismatischen Rednern an. Pembes Mann verlässt die Familie wegen einer Tänzerin und Iskender, sein ältester Sohn, sieht sich mit gerade einmal 16 Jahren in der Pflicht, die Rolle des Mannes in der Familie einzunehmen.

Das farblose Leben in London steht in einem starken Kontrast zu ihrem Heimatdorf:

Wie die meisten Auswanderer hatte auch meine Mutter [Pembe] ein selektives Gedächtnis. Von der zurückgelassenen Vergangenheit behielt sie fast nur, wenn nicht ausschließlich, das Gute in Erinnerung: die warme Sonne, die Gewürzpyramiden auf dem Markt, den Tanggeruch im Wind. Die Heimat blieb makellos, ein Shangri-La und potenzieller Ort der Rückkehr, wenn nicht im wirklichen Leben, so doch zumindest im Traum.

Die anschauliche Sprache vermittelt sehr gut das Selbstverständnis nach denen Pembe und ihre Familie lebt und mit dem sie aufgewachsen ist: In ihrer Heimat „war Ehre also mehr als ein Wort. Ehre war auch ein Name. Man konnte sein Kind Ehre nenne, sofern es ein Junge war. Männer besaßen Ehre. […] Frauen besaßen keine Ehre, sie besaßen Scham“.

Überhaupt ist der Roman sehr sinnlich und stimmig in seinen Beschreibung: Ein See ist ein jadegrüner Teppich, Haar ist rabenschwarz und Haut milchweiß. So bewegen sich auch die Vergleiche in einem Ton, der nach Tausendundeiner Nacht klingt:

Verglichen mit einem Diamanten währt ein Menschenleben kürzer als ein Sommerschauer.

Die Gerüchte breiteten sich schneller aus als Tinte auf einem Stück Seide.

Trotz dieser Passagen bleiben die Figuren und das Leben, das sie führen, fremdartig – sie wirken wie aus der Zeit gefallen und manchmal wie die blass gezeichnete Kontur einer Schablonen. Teilweise empfand ich den indifferenten Umgang mit dem Ehrenmord als eine bewusste Provokation seitens der Autorin, um die Sinnlosigkeit der Tat herauszuschreien. Mir war es (glücklicherweise) unmöglich, Iskenders Tat aus seinem Charakter, seinem Umfeld und seiner Herkunft heraus zu begreifen – obwohl die Blenden in die Kindheit durchaus suggerieren, dass hier die Wurzeln seiner Tat liegen.

Der Roman eröffnet aus erzählerischer und inhaltlicher Sicht verschiedene Perspektiven auf den Ehrenmord und verleiht sowohl den Angehörigen als auch dem Täter eine Stimme. Selbst die Medien werden anzitiert, in einer Zeitung heißt es: „Ein exemplarischer Fall von patriarchalischer Tradition, wie sie im Nahen Osten gepflegt wird“.

Die Themen und Konflikte ihrer Heimat hat die Autorin bereits vielfach literarisch verarbeitet hat. Elif Shafak zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Türkei und hat bereits 13 Bücher veröffentlicht. In mehreren ihrer Romane verwebt sie Heimat(-losigkeit), Migration, Familien-, Religion- und Kulturgeschichte(n) der Türkei miteinander, lässt Tradition auf Moderne prallen.

In ihrem aktuellen Roman behandelt sie ein Tabu-Thema, das nicht nur in der Türkei, sondern auch in westlichen Ländern existiert. Sie widmet Ehre denen, die nicht wegsehen, „denen, die hören und sehen“ und schreibt in der Danksagung: „Ich bin den Frauen in Ost und West dankbar, die ihre Lebensgeschichte mit mir teilten, aber auch ihr Schweigen“.

Fazit

Ehre ist ein wichtiger, gesellschaftskritischer Roman, den man auf sich wirken lassen muss. Elif Shafak findet eine Sprache für das schöne Fremde und das unfassbar Grausame. Die vielen Erzählerstimmen, Widersprüche und (extremen) Ansichten gegenüber Tradition, Migration und dem Ehrenmord werden nicht moralisierend dargestellt und lassen Raum, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Genau darin entfaltet er seine Stärke – und weil das Bild des Jungen, der einen unbegreiflichen Mord aus Ehre begangen hat, nicht so schnell verblasst.

Elifk Shafak: Ehre. Kein & Aber 2014. 24,90€. ISBN: 978-3036956763.

Ein Rezensionsexemplar von Kein & Aber und