Gelebt wird im Wald

Von Lukas Röthlisberger @Adekagabwa

Überall sieht man Baukranen.
Die überbaute Wohnfläche wächst rasant: viel schneller als das Bevölkerungswachstum! Merkwürdig. Ja, mit jeder Generation braucht das Individuum mehr Wohnraum. Zweizimmerwohnungen, in denen vor fünfzig Jahren noch kinderreiche Familien wohnten, reichen heute auch einem Single nicht mehr. Weshalb ist das wohl so?

Ich erinnere mich an Bolivien: die Häuser der Indianer waren klein, mit Stroh gedeckt und es lebte eine große Familie drin. Aber lebten sie wirklich im Haus? Nein, eigentlich schliefen sie nur des Nachts im Schutze der Lehmwände, tagsüber waren die Kinder beim Lama hüten, die Eltern auf dem Kartoffelacker, der Älteste in einer Schule (zwei Stunden entfernt) und der gebrechliche Opa sass auf dem großen Stein.

Gelebt wurde auf den Hügeln, am Fluss, am Markt, zwischen dem Eukalyptus oder am See. Und nicht im Haus. Viele Afrikaner wundern sich, dass bei uns die Strassen so leer sind. Wo sind die Kinder? Wo sind die Menschen? Ja, die sind alle drinnen.

Gehen wir zu unseren Vorfahren, den Primaten, oder zu unseren Verwandten, den Tieren, dann stellen wir mit Erstaunen fest, dass niemand eine Wohnung hat. Die Vögel sitzen einfach im Regen auf dem Geäst, das Reh schläft im Gebüsch. Manche Tiere machen sich wohl ein Nestchen, der Feldhase zum Beispiel, oder die Fledermaus. Aber diese «Wohnung» ist kaum grösser als das Tier selbst.

Was ist da passiert? Warum können wir uns nicht mehr einfach draußen aufhalten, wie ein Frosch oder ein Bär? Warum haben wir Angst, irgendwo in einem Wald zu schlafen? Warum glauben wir, gleich krank zu werden, wenn wir den Tag im Regen verbringen? Und weshalb würden wir glatt verhungern, wenn wir nicht im Supermarkt unser Essen fänden?

Glück heißt heute bequem und warm. Wir haben uns angewöhnt, zwischen/unter Backstein und Beton zu leben. Wir haben gelernt, dass man sich deshalb eine nette Wohnung einrichten muss. Wir haben gerne das Jahrtausende alte Wissen um das Leben in der Natur dagegen eingetauscht.

Und deshalb bekommen wir jetzt den Orden «zivilisiert».

Links: Abends; Rechts: Überfahrt
Gouache auf Aquarellpapier / 63cm x 42cm / 2005, Nr. 05-010 und Nr. 05-011

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