Aus buddhistischer Sichtweise gibt es drei Dimensionen unserer menschlichen Existenz, die traditionell Körper, Rede und Geist genannt werden. „Körper“ beschreibt unseren materiellen Körper, die Verkörperung und Umhüllung unseres Bewusstseins in einem materiellen Fahrzeug, dass sich in der vertrauten physischen Welt umherbewegt, wo wir und mit den verschiedenen Aktivitäten dieser Welt beschäftigen, insbesondere in Beziehung zu anderen Lebewesen, die auch materielle Körper besitzen. Die Sutra-Abhandlungen des Buddhas behandeln eigentlich von allen drei dieser Dimensionen des menschlichen Daseins, aber der Fokus ist auf dem verkörperten Bewusstsein, das sozusagen unser normaler, gewöhnlicher Wachzustand des Bewusstseins ist. Die Sutra-Lehren beschäftigen sich mehr mit dieser Dimension des Körpers, besonders mit unserem Verhalten und Taten hinsichtlich unserer Interaktionen mit anderen Lebewesen. Daher wird hier oft auf die Sittlichkeit und Tugendhaftigkeit und die Regeln des Verhaltens Bezug genommen, die danach trachten, Handlungen, die anderen schaden könnten und bei anderen Leid verursachen würden, zu vermeiden. Und die Methoden der Sutras werden oftmals als der Pfad der Entsagung bezeichnet. Das bezieht sich spezielle auf unser verkörpertes Bewusstsein, das sozusagen unser alltäglicher Zustand des Wachbewusstseins ist, wo wir uns selbst von einem materielle Körper umgeben vorfinden. Daher ist diese Art von Psychologie, die in den Sutras erläutert wird, mehr auf die Oberfläche des Bewusstseins bezogen und wir können sagen, dass die Psychologie des Abhidharma, die aus den Sutras entwickelt wurde, eine Phänomenologie des Bewusstseins darstellt.
Die Lehren der Tantras betreffen jedoch mehr die Energie und die Verwandlungen der Energie. Daher ist das Tantra-System mit unserer gesamten Dimension der Rede verbunden. Rede ist Klang und Klang ist Energie und daher bezieht Tantra sich auf unsere gesamte Dimension der Energie als menschliche Wesen. Das meint nicht nur die Klänge, die wir machen, sondern ebenso auch unser Atmen und unsere Emotionen. Das Wort „Tantra“ bedeutet wortwörtlich „Kontinuität“ oder „Kontinuum“. Was hier kontinuierlich ist, ist das Auftauchen von Energie in Form von Gedanken und Emotionen aus unserer unbewussten Psyche. Der Begriff „Tantra“ bezieht sich nicht ausschließlich auf die sexuelle Aktivität. Sex ist nur eine Form von Energie innerhalb des menschlichen Daseins. Da seine Betonung auf Energie und Klang liegt, ist Tantra auch als das Mantra-System bekannt, wobei Mantra die schöpferische Kraft von Klang und Namen ist, um die Phänomene aus der reinen Potentialität des leeren Raumes in die Existenz zu rufen. Für sich selbst ist Energie ohne Form, aber sie kann durch Ritual, Anrufung und Visualisation Gestalt annehmen. Ferner ist es ein Merkmal von Energie, dass sie sich verändern und verwandeln kann. Somit kann man sagen, dass die Methoden des Tantra den Pfad der Transformation darstellen. Allerdings liegt hier im Tantra das Interesse nicht nur auf den Manifestationen von Energie, sondern auch auf den tief verborgenen Quellen der psychischen Energie, nämlich der Natur des Geistes. Diese psychische Energie hat mit dem zu tun, was wir gewöhnlich Psyche oder die Seele nennen. Daher kann diese Art der Psychologie, die mit den Tantras verbunden ist, sogar auch als buddhistische „Tiefenpsychologie“ bezeichnet werden, bei der der Fokus mehr auf den Tiefen als auf der Oberfläche des Bewusstseinsstromes liegt.
Allerdings ist das zentrale Anliegen der buddhistischen Lehren der Geist. Unter diesen drei Dimensionen von Körper, Rede und Geist, ist letzterer der wichtigste und grundlegendste. Sowohl körperliche Aktivität und die Energie der Emotionen hängen vom Geist ab. Alles kommt aus dem Geist. Die Upadesha-Lehren des Buddha und der buddhistischen Meister verweisen direkt auf diesen Geist als die Ursache. Der Fokus dieser Anweisungen ist das Entdecken dieser Natur des Geistes und seiner Fähigkeit des Gewahrseins, Rigpa genannt, in unserer unmittelbaren Erfahrung. Das Hauptinteresse sowohl von Dzogchen als auch Mahamudra ist der Geist, sozusagen die Natur des Geistes. Hier wird eine entscheidende Unterscheidung zwischen dem Geist (sems), unserem normalen, alltäglichen Gedankenprozess und dem Wachbewusstsein und der Natur des Geistes (sems-nyid) gemacht, welche die Quelle unserer drei Dimensionen von Körper, Rede und Geist ist. Unser bewusster Gedankenprozess wandelt sich von Moment zu Moment. Er ist genauso flüchtig wie die Spiegelungen, die auf der Wasseroberfläche erblickt werden. Aber die Natur des Geistes ist jenseits davon und jenseits von Zeit und Bedingung. Diese Unterscheidung kann durch das Beispiel von Spiegel und den Spiegelungen, die in diesem Spiegel erscheinen, veranschaulicht werden. Die Natur des Geistes ist wie der Spiegel und der Geist oder Gedankenprozess ist wie die sich immer verändernden Reflexionen, die im Spiegel erscheinen. In unserem normalen Wachzustand des Bewusstseins, beeinträchtigt von beständigen Ablenkungen, leben wir in der Verfassung der Spiegelungen, wohingegen wir uns im Zustand der Kontemplation in der Verfassung des Spiegels befinden.
Dies wurde ursprünglich von Lama Vajranatha (John M. Reynolds) veröffentlicht und ist vom Ngak’chang Rangdrol Dorje übersetzt worden. Lama Vajranatha gibt vom 2. – 4. Mai 2014 im Ngakpa-Zentrum Lhündrub Chödzong Dzogchen-Belehrungen.