Ich sitze nach einer durchtanzten Nacht in der Berliner S-Bahn und döse vor mich hin. Ab und zu versuche ich mich wachzuhalten, indem ich die Nachrichtenbildschirme in meinem Waggon lese. Viel Neues gibt es nicht: Sanktionen gegen Russland treten bald in Kraft. Ein Fußballer ist verletzt. Esther Schweins will nicht heiraten.
Moment mal! Wo ist da die Nachricht? Es ist ja fragwürdig genug, wenn das Tun irgendwelcher Promis zur Neuigkeit aufgebauscht wird („Anne Hathaways mutiger Schritt – die Haare sind ab! Hier geht es zur Fotogalerie mit 111 Bildern“). Aber jetzt ist es auch schon lesenswert, was die VIPs gerade nicht machen? Oder liegt es vielleicht eher am Thema ‘heiraten’? Gibt es Schlagzeilen wie „Anne Hathaway kann sich NICHT vorstellen, ihre Haare zu blondieren“?
Mittlerweile bin ich hellwach und grüble: Was ist das für eine seltsame Obsession mit dem Heiraten in unserer Gesellschaft? Zunächst fallen mir drei Dinge auf:
1. Nur wenige Events sind so mit Erwartungen und vorgegebenen Abläufen überladen wie Hochzeiten. Angefangen beim weißen Kleid, über den Tortenanschnitt hin zum Werfen des Brautstraußes. Sobald jemand sich dem widersetzt und, sagen wir mal, ein schwarzes Kleid anzieht, ist das Drama groß.
2. Die Heirat wird als selbstverständliches Ziel einer festen Beziehung angesehen. Wer die große Liebe findet, muss sie auch heiraten. Genau das macht es ja erst zur wichtigen Nachricht, dass jemand nicht heiraten will, der scheinbar die große Liebe gefunden hat.
3. Nun sind wir doch schon ziemlich weit mit der Gleichstellung, aber beim Thema Hochzeit hinkt alles noch locker 100 Jahre hinterher. Männer sollen den Antrag machen, Frauen wird von Kindesbeinen an die Traumhochzeit als höchstes Ziel im Leben angepriesen.
Nach diesen nächtlichen Überlegungen, nehme ich mir vor, am nächsten Tag einige Statistiken zu Rate zu ziehen.
Dabei finde ich als erstes heraus, dass der Glaube an die große Liebe trotz der vielbeschworenen seriellen Monogamie immer noch hochaktuell ist: 72 % der Deutschen glauben an das Konzept, 65 % Prozent sind überzeugt, die Liebe fürs Leben bereits gefunden zu haben (Quelle der Statistik: Beraterteam.info). Heiraten scheint dabei gar nicht so wichtig zu sein. Jedenfalls finden es knappe 80 % in Ordnung, wenn ein Paar zusammenlebt, ohne heiraten zu wollen. Kein Wunder, schließlich ist die Institution Ehe heutzutage nicht gerade erfolgreich: Jede zweite Ehe erwartet die Scheidung.
Warum halten dann alle noch so verzweifelt am Heiraten fest? Warum ist uns das so wichtig? Wieso finden wir es eigentlich theoretisch okay, wenn ein Paar nicht heiraten will, sind dann aber trotzdem so schockiert, wenn wir auf ein solches Paar treffen?
Auf die Antworten kann man nur spekulieren. Vielleicht ist es der Traum vom Hollywood-Happyend: In einem profanen Alltag wollen wir uns das letzte märchenhafte Element nicht nehmen lassen, weswegen es sich hartnäckig mit all den dazugehörigen überkommenen Traditionen am Leben hält. Diese Sehnsucht sitzt womöglich so tief, dass wir einfach nicht begreifen können, warum jemand keine Traumhochzeit wollen würde. Im Versuch, das Unverständliche zu verstehen, schließen wir, dass etwas nicht ganz stimmen kann mit dieser Beziehung. So richtig ernst ist es denen wohl nicht. Und so kommt es, dass manche Menschen unbewusst oder bewusst unverheiratete Paare nicht wirklich ernst nehmen.
Ob Heiraten zur großen Liebe dazugehört, ist letztlich nur Sache von dir und deinem Partner. Unabhängig davon müsst ihr jedoch damit rechnen, dass andere Menschen euch und eure Beziehung danach beurteilen, ob ihr verheiratet seid oder nicht. Ob ihr euch davon auch beeindrucken lasst – das ist wiederum euch überlassen.