Geheimtipp: Das Amische Viertel in Chicago

Von Kaiblum

Beinahe jedes Mal, wenn ich auf dem Chicagoer Hauptbahnhof (Union Station) bin, sehe ich amische Familien in ihrer typischen Kleidung. Bis vor Kurzem hatte ich angenommen, dass sie sich nur auf der Durchreise befinden. Umso mehr war ich erstaunt, als mir jemand erzählte, dass es in Chicago ein amisches Viertel gibt! Ich dachte immer, die Amischen sind ausnahmslos Bauern, die ohne Autos und Elektrizität leben.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es aber anscheinend zu Spaltungserscheinungen bei den Amischen und eine Gruppe entschied sich im Frühjahr 1880 von Pennsylvania nach North Dakota zu ziehen, wo kostenloses Land vergeben wurde. Als die Gruppe, die rund zweihundert Personen umfasste, Chicago erreichte, erfuhren sie durch Zufall, dass Goose Island, eine Insel, die von zwei Armen des Chicago River umgeben wird, relativ preiswert zum Verkauf stand. Die Ersparnisse der Gruppe waren ausreichend und die Insellage versprach, dass die Amischen ungestört ihre Lebensweise fortsetzen und zugleich in unmittelbarer Nähe zu einem wichtigen Absatzmarkt leben konnten, was sie von Zwischenhändlern unabhängig machen würde.

Da sie niemand in Chicago vermutet (und Reisebuchautoren offenbar noch keinen Wind davon bekommen haben), leben sie auch heute noch unbelästigt auf der Insel. Die Division Street, die man auf der Karte die Insel durchkreuzen sieht, ist dort eine Hochstraße ohne Abfahrten. In das Amische Viertel kommt man daher nur zu Fuß oder per Pferdegespann über diese alte Brücke.

Das Foto zeigt eine kleine Gruppe von nichtamischen Besuchern beim Verlassen der Insel.

Auf der Insel kann man an kleinen Details, wie dem Kuhkopf über diesem Fenster, sehen, dass die Amischen, die sich in Chicago niederließen, ihren landwirtschaftlichen Wurzeln eng verbunden waren:

Sie mussten allerdings feststellen, dass der Boden auf der Insel weitgehend ungeeignet für die Landwirtschaft war. Deshalb verlegten sie sich auf die Möbelherstellung, die zeitweise so umfangreich war, dass ihren Werkstätten einen eigenen Eisenbahnanschluss hatten. (Auf dem Foto von der Brücke sieht man noch die alten Gleise.) Auch heute kann man die amischen Möbel in mehreren Geschäften in der nahegelegenen Clyborn Avenue und weit über Chicago hinaus kaufen. Vielleicht habt ihr auch schon die Schilder mit der Aufschrift Amish Furniture gesehen?

Eine weitere Einnahmequelle war zeitweise auch eine eigene Brauerei, die 1988 gegründet wurde, weil der Verkauf von Möbeln zurückging. Das erwies sich als vorausschauend, denn 1998 eröffnete IKEA eine Filiale nahe Chicago, wodurch die lokale Möbelherstellung noch weiter beeinträchtigt wurde. Statt Qualitätmöbel der Amischen zu kaufen, schraubten die Leute jetzt lieber selbst ein paar Bretter zusammen.

Die Brauerei verkauften sie dann im Jahr 2008 für beinahe 39 Millionen Dollar an Anheuser-Busch InBev. Die Amischen haben diesen Betrag u.a. in neue Gasleitungen für die Straßenbeleuchtung investiert, die ihr im nebenstehenden Bild sehen könnt.

Hin und wieder sieht man amische Kutschen auch außerhalb der Insel. Sie sind an dem speziellen Schild mit der Aufschrift Chicago Amish Vehicle erkennen, die sie tragen müssen, um im städtischen Straßenverkehr zugelassen zu sein. Sie unterscheiden sich ein wenig von den Amischen Kutschen, die wir aus dem ländlichen Raum kennen.

P.S. Wie ihre Verwandten auf dem Lande, mögen es auch die Amischen in Chicago nicht, dass Fotos von ihnen gemacht werden. Diesen Wunsch habe ich respektiert.

Noch ein Geheimtipp: Chicago ist Schauplatz mehrerer Kapitel in meinem Buch:

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