Gegenstrophe, Blätter zur Lyrik Nr. 3 - 2011, ergänzt
Lyrik, für Verleger kein einfaches Thema. Die Blätter zur Lyrik hatte ich schon in meinem Bericht über das Lyrikfest erwähnt und habe noch ein Versprechen einzulösen.
Dies hatte ich geschrieben:
"Gleichzeitig gibt der Wehrhahn-Verlag einen weiteren Band der "Blätter zur Lyrik" mit dem Titel "Gegenstrophe" heraus - ein sehr verdienstvolles Unterfangen..." Ich komme "beispielhaft auf Band 3 von 2011 zurück. Als Herausgeber zeichnen Michael Braun, Kathrin Dittmer und Martin Rector verantwortlich.
Das feine Buch in der Hand zu halten ist eine Freude: Es ist solide gebunden, fühlt sich angenehm an und ist hübsch anzusehen.
Schlägt man es auf, fällt schon im Inhaltsverzeichnis die klare Gliederung auf: "Premiere" zu Beginn, dann im "Porträt" Gedichtbeispiele einzelner Autoren, denen jeweils ein kurzer Essay, eine "Vorbemerkung" vorangestellt wird. Es folgen die Teile Essay und Dossier; letzteres rankt sich um den Hölty-Preisträger 2010 Paulus Böhmer (Laudatio, Textbeispiel, Vita und Bibliographie).
Auf den, der lose darin blättert, warten viele Entdeckungen und Überraschungen. Von Simone Kornappel, einer der Premieren, fällt ein kreisförmiges Bildgedicht ins Auge Michael Lentz, Dirk von Petersdorff, Marion Poschmann und Jan Wagner - sie alle schreiben in einer eigenen Farbe und erwecken Interesse. Ein paar Beispiele möchte ich später nachtragen".
"selbstgespräche, aus dem tag gehoben ..." beginnt Nadja Küchenmeister ihr Gedicht "geleit", ebenfalls eine der Premieren. Ob das wohl für Lyrik überhaupt gilt? Sind Gedichte Selbstgespräche, aus dem Tag gehoben? "unter den sternen" bringt eine Erfahrung in wunderbare Bilder, die wohl jeder schon einmal gemacht hat: Man kommt dorthin zurück, wo man einmal gelebt hat, meist ist es wegen der vielen Veränderungen mit Enttäuschungen verbunden. "was vor dir liegt, was nach dir kommt: andere / echos bewohnen den garten ... und der Schluss: "eine karte, die es nicht / gibt, weiß von den erdbeersträuchern im schatten." Nadja Küchenmeister (geb. 1981 in Berlin) - ein Name, den man sich merken darf.
Michael Lentz - der erste der vier Porträtierten (das sind diejenigen, die beim Lyrikfest 2010 vorgestellt wurden) - wird von Michael Braun mit einer Vorbemerkung bedacht. Die literarische Wandlungsfähigkeit dieses Dichters (Jahrgang 1964) sei enorm. Er hatte mit Lautpoesie begonnen, vieles zusammen mit Musik gemacht, einen Roman und einen dokumentarischen Roman geschrieben und zuletzt "100 Liebesgedichte" vorgestellt. "bin ich wankelbarer als das meer?", fragt er in "liebe frau", "bin ich das meer?" und abschließend: "bin ich etwa erde / und stehe fest und werde / was ich bin?"
Dirk von Petersdorf (geb. 1966 in Kiel) ist nach Martin Rectors Meinung, der ihn vorstellt, ohne Zweifel ein "poeta doctus". So versichert er in "Sirenenpop" auch, dass es Nymphen gab. "Die Mythen" aber "wissen auch das Ende: / Im Nacken greift dich kalte Pflicht, / und Zauberwesen arg verwandelt, / Gefühlskanäle stopft man dicht ..."
"... dieser fluide, leicht melancholische Zustand, dieses beruhigende Überlassen wie präzise Zugreifen auf Etwas charakterisiert nicht von ungefähr ... die Dichtung von Marion Poschmann" (Jahrgang 1969), sagt Cornelia Jentzsch in ihrer Einführung. Obgleich die Titel eher technisch klingen - "Futterautomat" zum Beispiel - spielt doch die Natur eine wichtige Rolle in ihren Gedichten. "wir wären sicherlich auf diesen Berg gestiegen / im unverbrauchten Nebel, Morgennebel / verschwunden, hätten uns Mühe gemacht / Sand und Kiesel knirschen zu lassen und / den Waldschatten einzuatmen, aber / es war der Wildpark, der uns aufhielt ..."
"Hier ist ein Traiteur am Werk, der sein Handwerk gelernt hat" sagt Michael Krüger zu Jan Wagner (geb. 1921). "Er weiß, wie man schneidet und würzt ..." Seine Gedichte - hier besonders "giersch" und "lazarus" - empfehle ich sehr zur Lektüre. "nicht zu unterschätzen, der giersch / mit dem begehren schon im namen - darum / die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch / wie ein tyrannentraum. / kehrt stets zurück wie eine alte schuld ..."
Der mit "Dossier" überschriebene Teil der Blätter zur Lyrik dokumentiert die Verleihung des Hölty-Preises für Lyrik 2010 an Paulus Böhmer (geb. 1936) (Laudatio, Gedichtbeispiele, Bibliographie usw.). "Der Homer der Datenströme - Einladung Paulus Böhmer zu lesen" überschreibt Jan Volker Röhnert seine Laudatio und beginnt: "Es gibt zwei Arten, sich auf Paulus Böhmer einzulassen: entweder gar nicht oder ganz" - fürwahr. Für mich selber herrscht der Eindruck vor einer merkwürdigen Mischung zwischen Sinnlichkeit und "poeta doctus", zwischen gelehrten Inhalten also und sinnlichen Bildern (die oft erstaunlich einfach formuliert sind), immer wieder mit Humor gewürzt. "Böhmer mutet seiner Dichtung das Schwierigste zu und doch kommt sie ganz leicht daher", sagt Röhnert - und führt solche Verse an (hier nur der Anfang zitiert): "Manchmal sind wir kleine Fische, Hering, Kabeljau, / manchmal auch ein Wal in Blau. / Manchmal lassen wir die Schafe schlafen, / manchmal schneiden wir den Schafen, wenn sie schlafen, / auch den Hals entzwei. ..." (aus "An Land") Als Beispiel abgedruckt ist in diesen Blättern zur Lyrik ein Auszug aus "Kaddish". Aber Paulus Böhmer könnte hier ein eigenes Thema sein.
Hier wollte ich sie nur anregen, die "Gegenstrophe" Nr. 3, Nr. 4 und alle weiteren ... wahrzunehmen (zu erwerben) und darin zu blättern (vielleicht auch, um ein neues Verhältnis zur Lyrik zu bekommen). Der Wehrhahn-Verlag bringt sie jährlich heraus.
Text: Helge Mücke, Hannover; das Bild gibt die Titelansicht des Verlages wieder.
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