Inge Hannemann Wie eine Arbeitsvermittlerin zur bekanntesten Whistleblowerin Deutschlands wurde und nun das Hartz-4-System hacken will. Eine Begegnung
Als ich erstmals die Schlagzeilen rund um die sogenannte „Hartz-IV-Rebellin" registrierte, erwartete ich, dass die Pressemeute erneut einen dieser Betrugsfälle von Arbeitslosen publik gemacht und zum Spießrutenlauf bereit gestellt hatte. Diese Einzelfälle, die oft dazu dienen, auflagenstarke Scheindebatten zu führen und den arbeitenden Mittelstand gegen „faule Hartzer" aufzuhetzen, widerten mich schon lange an. Noch so einen „Florida-Rolf", der nur dazu dient, die Arbeitssuchenden wie eine Kaste von Schmarotzern aussehen zu lassen, sollte meine Aufmerksamkeit nicht bekommen. Also beschloss ich diesen vermeintlich weiteren Fall, wie auch das schreckliche Nachmittagsprogramm der Privatsender, das demselben Zweck dient, zu meiden.
Es war dann ausgerechnet ein Bericht auf einem dieser Sender, der mich über Inge Hannemann aufklärte. Ungläubig starrte ich den Bildschirm an. Hatte ich richtig gehört? Die Frau, von der nun schon einige Male die Rede war, sollte Deutschlands bekannteste Whistleblowerin sein? Es folgte ein Interview, in dem sie sich über das Bild ärgerte, das die Medien über die Empfänger*innen von Arbeitslosengeldern verbreiten würden. Ich musste schmunzeln. Es verging ein Jahr, in dem ich zahlreiche neue Artikel und Beiträge rund um ihre Person verfolgte, ehe ich sie am Tage vor ihrem bisher größten Auftritt selbst treffen konnte. Mein Buchprojekt Nichtstun heißt, es tut sich nichts, in dem ich Probleme unseres Landes beleuchte und Menschen treffe, die diese bekämpfen, hatte sie überzeugt. Der gesellschaftlichen Linken den Spiegel des Versagens vorzuhalten, sollte auch ihr ein Anliegen sein. Gemeinsam ließen wir nur wenige Wochen später ihre Erlebnisse der letzten Jahre einmal Revue passieren.
Ihre Geschichte, so berichtete mir die umstrittene Hamburgerin, begann im Jahre 2005. In diesem wurde sie Fallmanagerin in einer Arbeitsagentur. Dort erlebte sie den Druck, der regelmäßig auf die Angestellten ausgeübt wird, die ihre Quoten nicht erreichen. Nach der Hartz-Reform ging es nur noch darum, möglichst viele Arbeitslose schnell in Beschäftigung zu bringen - egal, ob die Arbeit ihrer Qualifikation entspricht. Von nun an zählte nur die angelegte Excel-Tabelle. So beobachtete die Arbeitsvermittlerin wie sinnlose Beschäftigungsmaßnahmen aus dem Boden gestampft wurden, um „Menschen zu parken", wie sie es nennt. Von der Politik angeordnet, konnten so immer mehr Menschen aus der Statistik fallen. Deshalb haben wir „in Wahrheit viel mehr Arbeitslose wie behauptet wird", stellt Hannemann klar. Wie sie darauf kommt? Sie kennt die Zahlen der Bundesagentur. So werden knapp eine Million Menschen aus der Statistik gerechnet, weil sie in Maßnahmen sind. Ebenso ergeht es 1-Euro-Jobbern, arbeitslosen Müttern mit Kindern unter drei Jahren, Menschen, die Angehörige pflegen, und auch denjenigen, die länger als sechs Wochen krankgeschrieben sind. Ist man arbeitslos, aber 58 Jahre oder älter, ist man auch nicht arbeitslos - zumindest laut Auffassung der Zahlendreher. Die schafften es auch dafür zu sorgen, dass Arbeitslose, die Termine versäumen, nicht mehr in der Statistik erscheinen. Dass 1,3 Millionen Aufstocker*innen nicht als arbeitslos gelten, ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs.
Auch war sie mittendrin, als im Jahre 2006 zwei Entscheidungen den schleichenden Verfall der Gerechtigkeit im System beschleunigten. Die erste Verordnung, an die sich Jobcenter dabei halten sollten, war die sogenannte Leistungsmissbrauchsüberprüfung. Von nun an musste jeder neue Antrag dahingehend überprüft werden, ob Arbeitslose die Leistungen missbrauchen würden. Als sie davon hörte, war die Sachbearbeiterin entsetzt. „Wieso soll ich einem Menschen misstrauen, den ich gar nicht kenne? Was ist das eigentlich für ein Menschenbild?", fragte sie sich. In der zweiten Änderung wurde die Sanktionsregelung für unter 25-Jährige verschärft. Seit 2005 gibt es für die Beschäftigten im Jobcenter das Mittel der Sanktion. Diese politisch gewollte Maßnahme unter dem Motto des „Förderns und Forderns" erlaubt es den Arbeitsvermittler*innen, das Existenzminimum zu kürzen. Für Hannemann bis heute der größte Fehler der Reformen, da er „in jeder Hinsicht gegen die Menschenwürde verstößt".
Deshalb setzt sich die Aktivistin für einen Systemwandel ein. 2011 begann sie ihre Erlebnisse und Kritik zu bloggen und wurde daraufhin von ihrem Arbeitgeber, der Stadt Hamburg, entlassen. In der Folge lieferte sie sich nicht nur einen jahrelangen Rechtsstreit, sondern sammelte über 94.000 Unterschriften zur Abschaffung der Sanktionspraxis. 2015 wurde sie als parteilose Kandidatin mit einem beachtlichen Ergebnis in die Hamburger Bürgerschaft gewählt. Mit der Kampagne Sanktionsfrei sammelte sie bisher über 110.000 €, um sanktionieren Arbeitslosen das Existenzminimum zu sichern und ihnen kostenlose Rechtsbeihilfe an die Seite zu stellen. In meinem sozialen Buchprojekt erzähle ich ihre außergewöhnliche Lebensgeschichte, berichte von hundertprozentigen Kürzungen, Klagewellen und stelle ihre politische Forderungen an die gesellschaftliche Linke dar.
In Nichtstun heißt, es tut sich nichts ist Inge Hannemann eine von 15 Stimmen für neuen Mut zur Veränderung. Alle Einnahmen gehen an vier soziale Initiativen.
Schlagwörter: Arbeitsvermittlerin, Beschäftigungsmaßnahmen, Existenzminimum, Hartz-IV-Rebellin, Inge Hannemann, Menschenwürde, Sanktionen, Whistleblower