Gefühlte Wahrheit/Every Jack will find his Jill

Quelle: Carin Müller

Quelle:
Carin Müller

Autor:

Carin Müller

Genre:

Der Roman ist eine wilde Mischung aus Krimi, Romanze, Reisebericht, Fantasy, Expedition ins Tierreich, Comedy, Sportdrama und Science Fiction

Kapitel 1: Why Did It Have To Be Me

Dortmund, 29. August: “Was für ein Bullshit”, murmelte Selma vor sich hin und warf genervt die Illustrierte, in der sie gerade gelesen hatte, in die Ecke. “Gibt es eine objektive Wahrheit?”, hatte das pseudowissenschaftliche Dossier gefragt, das frauenaffin und stark auflagenorientiert die Promiklatsch- und Modestrecken in der Zeitschrift störte und Selma wertvolle Lebenszeit stahl. Wobei, Zeit hatte sie im Moment eigentlich genug: Keinen Mann mehr, kein Haustier mehr und der Job war nun auch noch futsch. Spitzenlauf. Wirklich. Zumal die Wahrheit ohnehin eine höchst flexible Angelegenheit war. Für Selma gab es im Augenblick nicht mehr viel, woran sie glauben konnte und wollte. “Schreiben Sie Ihre fünf unumstößlichen Wahrheiten auf!”, hatte sie der Psychotest aufgefordert. Na schön:
1. Alle Männer sind Idioten!
2. Von allen Hunden sind Beagles die größten Idioten.
3. Bastian Schweinsteiger ist der beste Mittelfeldspieler der Welt.
4. Es gibt keine Gespenster.
5. Die Erde ist eine Kugel.
Das war Selmas magerer Output – und die beiden letzten Punkte standen da ohnehin nur als Füllmaterial. Das Ergebnis des Tests fiel entsprechend niederschmetternd aus. Pessimistisch-misanthropische Grundstimmung wurde ihr diagnostiziert, mit einem starken Hang zum Zynismus. Natürlich hatte das Magazin das ein wenig charmanter formuliert, aber Selmas düsterer Gemütszustand hatte sich selbstverständlich ausschließlich auf den Subtext konzentriert. Gereizt stand sie auf und fing an, ihre Wohnung in einen halbwegs präsentablen Zustand zu bringen. Ihr alter Kumpel Fritz wollte gleich vorbeikommen, und dem konnte sie diesen Saustall nicht zumuten.

“Hier stinkt’s nach Rauch!”, beklagte er sich prompt, als er eine halbe Stunde später vor ihrer Tür stand, einige Tüten mit Klamotten in der einen Hand – Fritz war ein aufstrebender Modedesigner mit eigener TV-Show und entsprechendem Ego – und einen Korb voller Lebensmitteln in der anderen.
“Kann nicht sein”, behauptete sie, küsste ihn auf beide Wangen und nahm ihm den Korb ab. Wow, er war ganz offensichtlich in einem Feinkostladen gewesen! Schade, dass sie Fritz schon ihr ganzes Leben lang kannte und er wie ein Bruder für sie war, denn eigentlich wäre er der perfekte Mann. Zumindest wenn man großzügig darüber hinwegsah, dass er schwul war und sie dazu bringen wollte, endlich einmal ihre ‘feminine Seite’ adäquat zu betonen und ihr daher ständig irgendwelche Musterteile aus seinen Kollektionen anschleppte.
“Doch! Und du selbst stinkst auch nach Rauch!” Er schnupperte an ihren Haaren und wandte sich angewidert ab. “Qualmst du etwa neuerdings?”
“Hm.”
“Aber du hast doch dein ganzes Leben nicht geraucht. Findest du es nicht ein klein wenig kindisch, mit fast vierzig damit anzufangen?” Er musterte sie mit gerunzelter Stirn und fing dann an, die Kleider auszupacken und auf ihrem Sofa zu drapieren.
“Ich bin achtunddreißig! Und abgesehen davon ist es doch völlig egal, wie ich mich zugrunde richte. Ich könnte mich auch auf die Straße stellen und hoffen, dass ich vom Bus überfahren oder vom Blitz getroffen werde. Kann ich genauso gut auch rauchen.”
“Das ist doch totaler Schwachsinn, Püppi”, murmelte Fritz, während er in einer der Tüten nach Accessoires kramte. “Selbst wenn man den Fakt ignoriert, dass Rauchen absolut unsexy und potenziell tödlich ist, kosten die Kippen schließlich ein Schweinegeld. Und du bist doch jetzt auch noch arbeitslos, oder habe ich deine hysterische Nachricht von gestern auf meiner Mailbox etwa falsch interpretiert?”
“Vielen Dank für den Hinweis”, schnaubte Selma. “Ich habe dich angerufen, weil ich Trost und Mitgefühl brauche. Wäre mir nach einer Auflistung meiner zahlreichen Defizite gewesen, hätte ich mich auch an meine Mutter wenden können.” Sie funkelte ihren – Notiz ans Unterbewusstsein: ehemals! – besten Freund wütend an. “Und was soll ich überhaupt mit diesen Fummeln?”
“Du bist so undankbar”, seufzte Fritz und streichelte zärtlich eine perlgraue Seidenbluse. “Es gibt Frauen, die würden sich entleiben, wenn sie meine Kreationen kostenlos bekämen.”
“Dann hätten sie aber nicht mehr viel davon.”
“Bitte?”
“Na, wenn sie sich umbringen, können sie mit den Klamotten auch nichts mehr anfangen. Außerdem gäbe es unschöne Flecken. Was das allein an Reinigung kostet! Waschen kann man deine Sachen ja nicht.”
“Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine zynische Zimtzicke bist?”, fragte Fritz mit gerunzelter Stirn. “Und jetzt zieh das rote Etuikleid an.”
“Du sollst mich trösten und nicht verkleiden”, rief Selma unwirsch, schlüpfte aber aus ihrer ausgebeulten Lieblingsjeans und dem gerippten Tanktop.
“Ich tröste dich doch – oh mein Gott, was ist das? Mit dieser Unterwäsche wirst du nie wieder Sex haben!”
“Die ist bequem”, verteidigte sie sich. “Außerdem geht dich mein Sexleben gar nichts an.”
“Ach? Und ich dachte, deshalb bin ich hier.” Er zog mit einem süffisanten Grinsen eine Braue hoch.
“Du bist hier, weil mein ganzes Leben aus den Fugen geraten ist! Aber du hörst mir ja wieder nicht zu. Typisch Mann! Wofür habe ich bitteschön einen schwulen Freund, wenn ich mich nicht mal bei ihm ausheulen kann?”
“Mit Tom und Jerry auf den Titten und Bugs Bunny auf dem Arsch kommst du mir jedenfalls nicht in mein rotes Kleid.” Fritz war wieder bei den unangemessenen Dessous angekommen und ignorierte ihre Vorhaltungen.
“Fritz, Fritz, Fritz, wo soll das noch hinführen?”, seufzte sie mit triefendem Sarkasmus in der Stimme. “Wenn du solche Sprüche bei Styling Princess bringst, bist du deine glamouröse Fernsehkarriere ruckzuck los. Ich weiß, wovon ich spreche. Und jetzt her damit!”, forderte sie und stieg vorsichtig in das Kleid.
“Wahnsinn! Ich sag dir, wenn du auch nur einmal mit so einem Kleid zur Arbeit erschienen wärst, hättest du deinen Job noch.” Fritz bewunderte sein Werk, das sich wie eine zweite Haut an seine gereizte Freundin schmiegte. Jammerschade, dass Selma so eine störrische Kratzbürste war, die ihren Traumkörper – rein professionell betrachtet, selbstverständlich – am liebsten in irgendwelchen abgeranzten Baggy-Jeans und unsäglichen T-Shirts versteckte.
“Nur falls du dich nicht mehr erinnern kannst, ich bin Sportreporterin bei Wave FM! Was soll ich da mit so einem Edelfummel?”
“Du warst Sportreporterin”, korrigierte Fritz sie sanft. “Und wenn du dieses Kleid zusammen mit der dafür angemessenen Einstellung getragen hättest, wärst du es immer noch.”
“Unwahrscheinlich …” Selma schluckte schwer, doch sie würde jetzt auf keinen Fall zu heulen anfangen. Niemals!
“Komm mal her”, forderte er sie nun auf und zog sie neben sich aufs Sofa. “Ich will jetzt alles ganz genau wissen! Angefangen beim treulosen Karl-Heinz bis hin zum gloriosen Rauswurf aus dieser Radio-Klitsche.”
“Er heißt Carlos”, grummelte sie. Und auch wenn Fritz den ersten Teil der Geschichte schon mit allen unschönen Highlights kannte, breitete sie ihren persönlichen Horrortrip der letzten drei Monate noch einmal minutiös aus.

***

Vor fünf Jahren war Selma Anderson – Produkt der hitzigen Kurzehe eines kölschen Funkenmariechens mit einem schwedischen Lastwagenfahrer – von ihrer Heimatstadt Köln nach Dortmund gezogen. Schweren Gemüts, aber leichten Herzens, denn der Umzugsgrund war Karl-Heinz “Carlos” Mertens, Hotshot beim hipsten lokalen Privatradiosender Wave FM. Falls man die Vokabel “hip” mit der Ruhrstadt überhaupt ungestraft in Verbindung bringen durfte … Für ihn jedenfalls hatte Selma ihre freie Mitarbeit bei RTL aufgegeben, denn was war schon ein potenzieller TV-Ruhm gegen die große Liebe? Und nichts anderes war Carlos für sie gewesen: DER Mann, mit dem sie sich das volle Programm aus weißem Kleid, Babys und Haustier erträumt hatte. Leider sah seine Lebensplanung geringfügig anders aus: Ehe und Kinder? Um Himmels Willen bloß nicht! Schließlich hatte er ihr doch schon den Job als Sportreporterin und Moderatorin besorgt, das sollte fürs Erste doch wohl reichen. Einzig auf Beagle Briegel hatten sie sich einigen können, auch wenn Carlos den Namen für das Tier höchst fragwürdig fand. Selma hatte sich dank ihres unerschütterlichen Optimismus – oder wie Fritz es nannte: ihrer dämlichen Ignoranz – mit allem arrangiert. Immerhin war mit Briegel bereits einer ihrer drei Träume in Erfüllung gegangen, der Rest würde dann auch noch kommen. Und ihren Job machte sie auch gerne. Jedenfalls, wenn sie davon absah, dass ihr Hauptthema der BVB war. Sie war zwar seit ihrer Kindheit ein fanatischer Fußballfan, aber ihr Herz schlug eindeutig Rot – FC Bayern- und aus treuer Heimatverbundenheit auch FC Köln-Rot. Doch auch diese nicht ganz unwesentliche Klippe hatte sie jahrelang und in vollendeter Selbstverleugnung souverän umschifft. Nicht zuletzt auch wegen eines recht erfolgreichen kleinen Fußball-Blogs, in dem sie unter Pseudonym über die Schwarz-Gelben herzog. Nur aus Gründen der Psycho-Hygiene selbstverständlich! Es lief also alles super.
Bis vor drei Monaten Carlos einigermaßen überraschend mir ihr Schluss gemacht hatte. Er hatte sich in die dreiundzwanzigjährige Praktikantin Irina verguckt und sie prompt geschwängert. Selma war fassungslos, dass ausgerechnet ihr Freund wirklich jedes dämliche Klischee durchexerziert hatte. Doch musste sie ihren Schock über ihren neuen Status als Verlassene erst einmal vertagen. Es war nämlich der 20. Mai gewesen, fünf Tage vor dem bislang wichtigsten Ereignis in ihrem Berufsleben: dem Champions-League-Finale zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern München. Nicht, dass sie nach London hatte fahren dürfen – “Wo denkst du hin? Wir haben für so etwas kein Geld!” –, aber sie musste das große Public Viewing des Senders live moderieren. Dass ihr nach dem triumphalen Sieg der Bayern on air ein unprofessionelles Triumphgeheul entwichen war, konnte nur ihrem angeschlagenen Zustand geschuldet gewesen sein. Leider hatte der Programmchef für diese Erklärung keinerlei Verständnis und konfrontierte sie mit einer Abmahnung. Noch ein derartiger Aussetzer und sie könne sich einen neuen Arbeitgeber suchen! Zu allem Überfluss hatte sie sich noch öffentlich beim geschmähten Fußballclub entschuldigen müssen – was fast noch schlimmer war als der fast zeitgleiche Auszug aus der ehemals gemeinsamen Wohnung. Hatte sie erwähnt, dass Carlos der Programmchef war? Immerhin hatte sie fix eine günstige und ganz hübsche Zweizimmerwohnung für sich und Briegel gefunden. Dank der Fußball-Sommerpause war sie dann zunächst auch nicht mehr Gefahr gelaufen, auf Sendung für den falschen Verein zu jubeln, sondern hatte sich privat mit Wunden lecken und beruflich unter anderem mit der Schwimm-WM, nun ja, über Wasser gehalten. Bei der ersten Borussia-Pressekonferenz zum Ligastart vor drei Wochen war sie demonstrativ mit einem BVB-gelben T-Shirt erschienen und ihr liebevoll gestalteter Aufdruck “Who’s Pep? We love Kloppo!” hatte Trainer und Pressechef zum Lachen gebracht. Was machte es schon? In Sachen Selbstverleugnung war sie inzwischen absoluter Vollprofi, und auf ihren Job konnte sie nicht ohne weiteres verzichten. Trotz dieser Tiefschläge hatte sie sich langsam wieder etwas aufgerappelt und sah milde optimistisch in ihre Zukunft. Hilfreich war dafür eindeutig das Gerücht, das seit ein paar Wochen intensiv durch die Redaktion waberte: Demnach war Carlos von Irinas reichem Vater eindrucksvoll zur sofortigen Eheschließung mit seiner Tochter “überzeugt” worden. Geschah ihm ganz recht! Sollte der Herr doch mal sehen, wie es sich als wandelndes Klischee und Schwiegersohn eines zumindest halbseidenen Russen so lebte.
Selma selbst fühlte sich, auch dank ihres strohdummen, aber über alle Maßen herzigen Hundes, gerade wieder etwas besser, bis letzte Woche das Schicksal erneut seine eiskalten Fänge nach ihr ausstreckte. Sie war am Donnerstagmorgen mit Briegel beim Joggen gewesen, als der Beagle sich plötzlich in selbstmörderischer Absicht von der Leine losgerissen und vor einen SUV gestürzt hatte. Leider erfolgreich! Es war wirklich das erste Mal in seinem ganzen dreijährigen Hundeleben gewesen, dass ihm etwas gelungen war. Unter der Voraussetzung jedenfalls, dass er sich wirklich hatte umbringen wollen. Möglicherweise war ihm aber auch nur eine Katze vor die Flinte gelaufen … Die extrem blondierte Hundsmörderin hatte die Tat jedoch einfach ignoriert und war ungerührt weitergefahren. Unfassbar, denn den lauten Schlag musste sie mitbekommen haben. Bestimmt hatte sie ihre wertvolle Brut in die nahe gelegene Privatschule karren müssen – was die Fahrerflucht in ihren Augen nicht nur erklärte, sondern wohl auch unausweichlich machte. So zumindest Selmas Theorie. Ein hilfsbereiter Autofahrer hatte sie nicht nur mit ihrem sterbenden Hund zum Tierarzt gefahren, sondern ihr auch noch das Kennzeichen der Geländewagenkutscherin nennen können.
Die ersten Tage nach Briegels Tod hatte Selma in einem Kokon des Schmerzes verbracht. Es war so schrecklich! Viel schlimmer als die Sache mit Carlos! Bis Sonntagabend hatte sie mehr Tränen geweint als in ihrem ganzen Leben zuvor – und mit der vielen Flüssigkeit war möglicherweise auch das letzte bisschen Vernunft aus ihrem Körper gewichen. Denn als sie sich wieder in der Lage sah, ihre Wohnung zu verlassen und zur Arbeit zu gehen, hatte sie eine Entscheidung getroffen, die ihr heute, drei Tage später, langsam auch selbst ein wenig fragwürdig erschien. Statt zur Polizei zu gehen und die Autofahrerin anzuzeigen, hatte sie in ihrer Nachmittagssendung in den schillerndsten Farben den grausigen Vorfall geschildert und den detaillierten Tathergang samt peinlich genauer Beschreibung von Auto und Fahrerin plus des Kennzeichens über den Äther geschickt. Die Welle des Mitgefühls ihrer Hörer wärmte sie jedoch nur kurz. Nach der Sendung wurde sie umgehend ins Büro des Programmchefs zitiert. Carlos’ Gesichtsfarbe war eine unerfreuliche Mischung aus aschfahl mit einigen scharlachroten Flecken – was wohl die junge Ehefrau davon hielt? – doch seine Aussage war eindeutig: Selma war gefeuert!

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