Es ist heiß dieser Tage in der großen Stadt. Wir machen uns auf, die Ecken zu entdecken, die wir nicht automatisch ansteuern, die uns etwas erzählen, die von Bäumen gesäumt auch schattigen Auslauf versprechen. Als wir an einem vorvergangenen Wochenende den Frankfurter Stadtteil Riederwald durchstreiften, seine Architektur bestaunend, erinnerte ich mich, dass ich auch damals in Essen wild darauf war, alleine mit dem Bus, die Architektur historischer Arbeitersiedlungen in Augenschein zu nehmen. Und auch Frankfurt empfehle ich unbedingt dort zu entdecken, wo Shopping-Fieber und Bankerhektik ganz weit außen vor bleiben.
Im Riederwald treffen wir auf die Architektur Ernst Mays, der die bereits 1902 begonnene Arbeitersiedlung 1926/1927 mit seinen Entwürfen ergänzte. Und wie der Zufall, den es bekanntlich nicht gibt, es will, entschließe ich mich zu diesem Artikel genau an seinem Geburtstag, der vor 128 Jahren war. Ernst May hat Frankfurt eine enorme Vielzahl an Siedlungen hinterlasen, die eine zugleich warmherzge und funktionale architektonische Antwort auf die soziale Frage waren. Was damals auch Arbeiterfamilien modernes Wohnen ermöglichen sollte, wirkt heute verglichen mit späteren Bausünden, ziemlich heimelig.
Ich bin keine Architekturexpertin und kann nicht ganz zuverlässig den Fassaden ablesen, wann welches Haus entstanden ist, ob es dem Schaffen Mays oder Vorläufern zuzuordnen ist. Flachere Gebäude (eindeutig May) und ein für heutige Augen fast villenähnlicher Stil (der Vorläufer: Heimatstil?) wechseln sich ab. Efeu rankt, die Straßen sind in Stille getaucht und in ein gemächliches, heute multikulturelles Leben, an einer Kneipe wird immer noch stolz das 30jährige Jubiläum 2008 verkündet. Es macht Spaß hier durchzuschlendern.
Hinter den Straßen kommt der Wald, der urwaldähnlich und fast kunstvoll anmutet. Die am Boden liegenden Äste und Stämme wirken wie Skulpturen und gewollte Arrangements, dann der Abenteuerspielplatz, die konzentriete Fußballjugend an einem Weltmeisterschaftssonntag, viele handgeschriebene Mitteilungen und Aufrufe. Hier wirkt die Welt noch analog, auch wenn sie es nicht ist.
Eine der berühmtesten und beliebtesten Riederwäldlerinnen war mit Sicherheit Johanna Tesch, eine der ersten Frauen, die als Abgeordnete im Berliner Reichstag für Arbeiter- und Frauenwohl stritt. Obwohl sie sich bereits 1924 aus der aktiven Politik zurückzog, wurde sie noch am 22. August 1944, in einer blindwütigen Racheaktion auf das Attentat vom 20. Juli, in das Frauen-KZ Ravensbrück deportiert. Dort starb sie fast siebzigjährig im März 1945. Ein Platz im Riederwald ist ihr gewidmet, ihr früheres Wohnhaus findet sich unweit.
Tipps
In die Siedlung Riederwald kommt man bequem mit der U4 oder U7 von der Innenstadt aus. Haltestelle Johanna-Tesch-Platz oder Schäfflestraße.
Das ehemalige Wohnhaus von Johanna Tesch hat heute die Adresse Am alten Volkshaus 1. Hier erinnert auch eine Gedenktafel an die Sozialdemokratin.
Über Ernst May und sein Wirken in Frankfurt:
Helen Barr, Ulrike May, Rahel Welsen: Das neue Frankfurt. B3 Verlag, Frankfurt, 2007.