Gedenken an die deportierten jüdischen MitbürgerInnen im 3. Bezirk in Wien
Als ich soeben meine Frau nächtens von der Straßenbahn im 3. Wiener Gemeindebezirk abholte und wir in unsere Gasse einbogen, entdeckten wir zwei Häuser weiter eine Kerze am Boden stehen. Neugierig, wie wir sind, mussten wir natürlich nachsehen, warum diese dort aufgestellt worden war. Als wir darauf zugingen, erinnerten wir uns, dass dort im Boden eine Gedenktafel an die jüdischen Bewohner dieses Hauses eingelassen ist, die an die Menschen erinnert, die von dort deportiert wurden und in den Konzentrationslagern den Tod fanden. In derselben Sekunde, als ich dessen gewahr wurde, war ich zutiefst berührt und den Tränen nahe. Da fiel es mir auch wie Schuppen von den Augen, woran ich heute kein einziges Mal gedacht hatte: Heute wiederholt sich das Gedenken an die Reichspogromnacht zum 73. Mal. Eine ungerade Zahl, die es offenbar nicht Wert war, in den Medien Eingang zu finden. Aber diese kleine Geste, ein solch persönliches Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, erschütterte mich zutiefst. Der daneben stehende winzige Topf mit kleinen Rosen und das Grablicht, das bei den Christen ja häufig am Allerheiligentag auf die Gräber gestellt wird, waren für mich ein sichtbares Zeichen des liebevollen Gedenkens an Menschen, die in einer dunklen Zeit umkamen. Dieses winzig kleine Zeichen, inmitten dieser virilen Großstadt erinnerte mich urplötzlich an die eigene Familiengeschichte; verlor ich doch einen Großvater an die Nazischergen. Dass wir bei dieser Betrachtung des kleinen, zuckenden Flämmchens unseren Kopf neigen mussten, erzeugte neben Nachdenklichkeit und Gedenken gleichzeitig das Gefühl einer großen Demut.
Wie viele Menschen dachten heute wohl an das Schicksal der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger im Jahr 1938? Auch ich hätte mir nicht sonderlich große Gedanken über den heutigen Tag gemacht. Erst dieser emotionale Moment führte dazu, mich hinzusetzen und diesen Text zu schreiben und mich zu fragen, wie es mit der Toleranz gegenüber Andersdenkenden aussieht. Ich begann nachzudenken, wie oft ich die Meinung oder den Lebenswandel anderer für unangemessen, dumm oder gar verwerflich halte. Wie oft ich es an der nötigen Toleranz fehlen lasse und mir gar keine Gedanken darüber mache, dass dies jemanden verletzen könnte. Jeder von uns hat Momente, in denen die Vorurteile mit ihm durchgehen und er oder sie schon mal bereit ist, Methoden oder Handlungen zu akzeptieren, die in einem anderen Kontext undenkbar wären. Gerade solche Situationen wie die Kerze und die Rose auf dem Gedenkstein machen mir bewusst, wie wichtig es ist achtsam zu sein und seine Meinungen und Ideen zu hinterfragen. Wir müssen die Toleranz und Demut vor Andersdenkenden und Andersgläubigen immer wieder aktiv einfordern und uns nicht zurückziehen und aus Bequemlichkeit die Auseinandersetzung scheuen. All zu oft lassen wir Menschen ihre Intoleranz durchgehen und glauben die Mühe dagegen aufzutreten lohne sich nicht, da solcherlei verbohrte Geister ohnehin nie ihre Meinung änderten. Gerade diese Bequemlichkeit aber war es, die Unmenschlichkeit und Barbarei in den Jahren 1933 bis 1945 unterstützt und zugelassen haben. Diese kleine Geste einer mir unbekannten Person hat mich erneut sensibilisiert und gezeigt, dass Toleranz, Achtsamkeit und Demut ein Boden sind, auf dem keine erneute menschliche Katastrophe wie der Holocaust oder die Reichspogromnacht möglich ist. Diese Gedanken wollte ich heute an diesem 9. November mit Ihnen teilen in der Hoffnung, dass diese wenigen Zeilen Sie zum Nachdenken anregen. Ich bin dankbar für dieses Erlebnis und ziehe den Hut vor dem Menschen, der mir diese Gedanken erst ermöglichte.
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