Wenn man mich damals – in den 90ern – gefragt hätte, ab wann ich mich erwachsen fühlte, hätte ich wohl geantwortet: am 12. Juni 1994, als ich das erste Mal wählen durfte. Ich tat die Nacht davor fast kein Auge zu. Ich war aufgeregt, unendlich aufgeregt. Wählen. Ein Privileg von Erwachsenen. Für Freiheit und Demokratie verließen meine Eltern ihr Leben in der DDR und siedelten mit uns Kindern 1985 in den Westen und ins Ungewisse über.
Wie ich an diesem sonnigen Sonntag im Juni 1994 meinen Stimmzettel das erste Mal in die Urne warf, fühlte ich mich endlich als vollwertiges Mitglied dieses erlauchten, privilegierten, erwachsenen Kreises.
Ich habe bis heute keine Wahl verpasst. Weder Kommunalwahlen, noch Sozialwahlen, noch Kreis-, Landtags- oder Bundestagswahlen. Wählen ist ein Recht für das anderswo Menschen mit ihrem Leben bezahlen. Wie sagte Hagen Rether einst so treffend? „Wählen ist wie Zähneputzen. Musste machen, sonst wird‘s ruck-zuck braun.“
Wählen ist eigentlich ein verdammtes Privileg. Ich sage bewusst eigentlich.
Ich bin leider keine Achtzehn mehr. Ich habe schon ein paar Regierungen kommen und gehen sehen. Und war sogar mal Mitglied in der SPD. Damals. 1998. Als viele meiner Generation von Kohl die Schnauze gestrichen voll hatten. Damals, als dieser dynamische Kerl aus Niedersachsen sich aufmachte Kanzler zu werden und „nicht alles anders, aber vieles besser“ machen wollte. Was war ich naiv.
Als Bomben auf den Kosovo flogen, mit Zustimmung der Grünen, realisierte ich das erste Mal, dass die Zeit wohl vorbei ist in der man bei einer Wahl eine Wahl hat. Zu dieser Zeit begann das Fernsehen – zumindest in meiner Wahrnehmung – die Republik mit neoliberalen Ideen sturmreif zu schießen.
In jeder verdammten Diskussionsrunde saß ein INSM-Spinner, in manchen sogar zwei und Hans-Olaf Henkel durfte zur besten Sendezeit sein Das-kostet-Arbeitsplätze-Kampflied singen. Der SPIEGEL – einst das Sturmgeschütz der Demokratie – mutierte vollends zum Kampfblatt der Besitzstandswahrer und trommelte zusammen mit der BILD gegen die faulen, arbeitsscheuen Arbeitslosen.
Als dann Eichel „das größte Geschenk aller Zeiten verteilte“ wurde mir vollends bewusst, dass es eigentlich egal ist, wer die Regierung stellt. Hinten raus kommt – frei nach Kohl – eben doch nur Mist. Dann führte Schröder Hartz IV ein und die CDU ging auf die Barrikaden: es war ihnen nicht radikal genug. Im Vermittlungsausschuss schliffen sie den letzten Rest Sozialstaatlichkeit aus den Hartz-Reformen und heraus kam das unsozialste und menschenverachtendste Stück Gesetzgebung, die diese Republik bis dahin gesehen hatte.
Ich ging demonstrieren. Beteiligte mich an den Montagsdemos. Tausende waren damals Woche für Woche auf der Straße. Der Wind der der Regierung Schröder von der Straße und den Gewerkschaften ins Gesicht bließ war enorm!
Schröder saß einen Teil davon aus, löste dann das Parlament auf und verlor. Zur Einführung lehnte eine hauchdünne Mehrheit der deutschen Hartz IV ab – 47% dagegen, 46% dafür. Und zur Strafe wählten die deutschen Schröder 2005 ab! Und Angela „Marktkonforme Demokratie“ Merkel wurde Kanzlerin einer großen Koalition. Das war echt hart!
Der Todesstoß für meinen Glauben an Wahlen und die deutsche Demokratie kam 2011 als ich in Baden-Württemberg Winfried Kretschmann voller Zuversicht und Hoffnung auf grundlegenden Wandel wählte – und er sich hinterher als schwärzer als die Schwarzen um Stefan Mappus entpuppte. Er war nicht so dilettantisch, okay, aber sonst?
Seit dem Lambsdorff-Papier von 1982 geistert durch Deutschland der Glaube an den Neoliberalismus, an Reaganism und Thatcherism. Man muss oben nur schön viel rein schmeißen, dann fallen unten auch ein paar Krumen für die armen Teufel ab. Seitdem hat sich viel verändert: der Neoliberalismus raffte erst die FDP, dann die CDU, später die SPD und zum Schluss die Grünen dahin und alle verfielen dem Glauben an den sakralen „freien Markt“. Heute unterscheiden sich diese vier Parteien nur noch in ihrer Radikalität mit der sie freie Märkte für frei Bürger fordern.
Wir leben hier in Freiheit! Das ist wahr. Und das ist was ich meinem Kind versuche zu vermitteln. Welches Privileg diese, unsere Freiheit ist und wie schützenswerte diese ist.
Aber leben wir in einer Demokratie? Wirklich? Lebten wir in einer Demokratie würden Wahlen ab und an Dinge ändern – zum Guten wie zum Schlechten. Aber Wahlen ändern nichts (mehr). Vielleicht taten sie das früher in einer Zeit an die ich mich nicht erinnern kann. Heute tun sie das nicht mehr.
Es spielt keine Rolle wem in meiner Gemeinde ich meine Stimme gebe – das zur Verfügung stehende Geld der Gemeinde begrenzt jeden Gestaltungsspielraum auf ein Minimum – danke Hans Eichel! Das gleiche gilt für die Landespolitik – und da hab ich es in Rheinland-Pfalz noch gut, ist doch diese SPD Regierung der Einäugige unter den Blinden. Die Fiskalen Sachzwänge sind jedoch hie wie dort die gleichen – andernorts nur noch prekärer.
Diesem Land bricht die Mittelschicht weg. Seit Jahren! Uns fehlen Hebammen und es werden immer weniger! Seit Jahren! Das Gesundheitssystem das meine Gesundheit und die meiner Familie erhalten soll marodiert seit Jahrzehnten vor sich hin und Ulla Schmidt durfte das letzte bisschen des Gesundheitssystems 2007 auf dem Altar des freien Marktes opfern. Heute hängt die Gesundheit und Lebenserwartung eines Kindes vom Geldbeutel seiner Eltern ab. Danke Ulla Schmidt.
Die Kinderarmutsquote stieg seit 1995 von 15,6 % auf 21,1 %. Mehr als jedes fünfte Kind in diesem reichen Land lebt in Armut! Scheiß auf die INSMler die jetzt schreien „REALTIVE ARMUT“! So what? Seit 1995 regierten 2 × CDU/FDP, SPD/Grüne und 2 × GroKo Regierungen und drei Kanzler und geändert hat es sich nur in eine Richtung – zum Schlechteren.
Alleinerziehende. Diejenigen dieser Gruppe die keine Zukunftssorgen haben sind die Minderheit. Die Mehrheit reißt sich ein Bein für die Kinder aus und sie machen weiter auch wenn sie selbst oft nicht wissen wie es weiter geht. Adressiert das mal jemand? Ändert sich für diese Menschen irgendwas zum Guten wenn sie CDU, SPD, FDP oder Grüne wählen?
Der Notstand bei der Kinderbetreuung zeichnete sich lange ab war zum Teil sogar selbst gemacht. Den Kommunen sind – wie schon gesagt – die Hände gebunden und von oben kommt nur Gequatsche und Schulterklopfen bis zum Zahltag. Dann verfallen alle in Panik und machen nur noch Bockmist um die Situation irgendwie wieder einzufangen. Was genau hätte es denn hier gebracht, hätte ich meinen Abgeordneten kontaktiert und ihm die Hölle heiß gemacht? Demokratie my ass!
Diesem Land bricht die Zukunft weg. Durch die Digitalisierung stehen wir von den umwälzendsten Veränderungen seit der industriellen Revolution! Das ist absehbar! Adressiert das mal jemand von Rang und Format im Bundestag oder im Wahlkampf? Anybody? Formuliert auch nur eine der gewählten Nasen eine positive Zukunftsvision für das kommende Deutschland in dem mein Kind eines Tages mal erwachsen sein wird?
Das deutsche Schulsystem verheizt die Zukunft unserer Kinder. Bulimielernen macht kein Kind fit für die kommenden Veränderungen! Alles was ich immer nur höre sind Lippenbekenntnisse wie wichtig Bildung ist. Und dann machen sie universitäre Ausbildung kaputt mit einem dilettantisch eingeführten Bachelor-Master-System, probieren mal G8 und dann wieder G9, wollen sich nicht vom dreigliedrigen System trennen – haben wir ja immer schon so gemacht.
Als Student schaute ich gern die historischen Debatten auf Phoenix. Da war noch Feuer im Parlament. Da war noch Streit. Demokratie lebt von Wettstreit! Wettstreit der Ideen, Wettstreit der Weltanschauungen und Visionen. Wettstreit. Heute verunglimpft die freie Presse jede Form von Diskussion in Parteien, in Koalitionen als „Streit“ mit diesem negativen Unterton. Eine Wahl zum Parteivorsitz wird als Kampfabstimmung oder Kampfkandidatur verunglimpft. Aber ein Martin Schulz als einziger Kandidat mit 100 % ist keine Wahl!!!11!elf.
Wettstreit, Streit, Diskurs, Debatten und eine Wahl zwischen verschiedenen Optionen sind aber das Lebenselixier von Demokratie.
Ich wünsche mir wieder Rabatz im Plenum. Ich will dass sich Politiker für ihre Überzeugung mit Worten und Rhetorik zoffen! Ich will dass es um einen Wettstreit um die besten Ideen geht. Und nicht länger dieses Einheitsblabla ertragen. Ich will dass CDU und SPD sich wieder unterscheiden. Dazu müsste aber die SPD erstmal die Fehler der Regierung Schröder einsehen, die Seeheimer auf die Plätze verweisen und fordern, dass Hartz IV auf den Müllhaufen der Geschichte befördert wird. Das aber wird nicht passieren.
Ich will, dass die Linke wieder die linken Spinner mit den realitätsfernen Forderungen sind. Die Spinner die zwar irgendwie ins Parlament gehören aber die man nicht ernst nehmen kann.
Ich werde auch im September wieder wählen gehen – das ist sicher! Denn Wählen ist ein Privileg. Aber gut möglich, dass ich das erste Mal auf meinen Stimmzettel etwas schreiben und ihn damit ungültig machen werden: „Ich kann keine Option erkennen!“
Mir ist bewusst, dass dieser Beitrag nicht das ist, was sich Tollabea mit ihrer tollen Blogparade vorgestellt hat. Aber er ist ehrlich. Wer Frust aus dem Beitrag heraus liest, hat richtig gelesen – ich bin nur noch frustriert über den Mangel an Optionen und die Gewissheit das sich nichts ändert. Das betrifft nicht nur Politik – im Kleinen wie im Großen. Das betrifft auch das Mediensystem dass eigentlich einen Auftrag zur Meinungsbildung hat. Und für Meinungsbildung braucht es Pluralität. Stattdessen erhält diese komische neue Partei eine Aufmerksamkeit als säßen sie mit 50 % im Bundestag und die Linke kommt so gar nicht vor oder wird verächtlich gemacht.
Anne Will verunglimpft Michael Lüders durch ihre Vorstellung, so dass man ihn nicht mehr ernst nehmen kann – maßgeblich weil er eine konträre Meinung zum Besten gibt. Kornblum darf natürlich reden als sei er unabhängig. Die Makroökonomie wird hierzulande von nur noch einer Theorie bestimmt. Wer andere Meinungen vertritt wird totgeschwiegen. Europa bricht auseinander – und alles was den Regierungen (unserer zu allererst) sind Repressalien gegen die, die raus wollen. Welch Zeichen der Schwäche wenn der derzeitige Umgang mit Großbritannien das einzige ist, was diese Union noch zusammenhält.
Ich empfehle Jung und Naiv im Gespräch mit Richard David Precht und ganz neu mit Hans-Christian Ströbele.