Als ich ein Kind war, habe ich mich oft geprügelt. Weniger, weil ich so „Auf die Fresse oder was?“-gröhlend durch die Gegend gelaufen bin. Es hat sich einfach so ergeben.
In der Kindergarten- und Grundschulzeit bin ich regelmäßig von Jungs „geärgert“ worden, wie man das damals nannte (heute heißt das laut meinen Töchtern „gemobbt“), und weil ich eigentlich ziemlich gutmütig war, habe ich mich nicht dagegen gewehrt. Meine Mutter spitzte mich jeden Morgen mit den Worten „Hau drauf!“ an und hoffte, dass ich mich irgendwann mal ordentlich verteidigen würde. Das war halt damals so – als Junge musste man sich seinen Platz im Rudel erkämpfen.
Irgendwann haute ich dann auch drauf. Wobei das jetzt zu martialisch und fehlgeleitet klingt – ich war wirklich ein eigentlich lieber Junge, der irgendwann die Schnauze voll hatte und dem schlimmsten Störenfried dann auf selbige haute. Später hatte ich zwei, drei Fans, die in jeder Pause eine (Spaß-)Schlägerei provozieren wollten. Oft mit Erfolg. Ich war groß und kräftig, aber eigentlich nett und daher nicht furchteinflößend und brutal. Ich warf diese Fans durch die Gegend und schlug ihnen auf die Schulter und sagte, sie sollen mich in Ruhe lassen. Aber sie kamen immer wieder an. Einfach immer draufhauen erscheint einem heute als blödsinnige Konfliktstrategie. Aber das waren halt die 80er.
Es war vollkommen klar, dass man sich als Junge nicht würde behaupten können, wenn man sich nicht körperlich durchsetzen konnte. Meine Mutter feuerte mich nicht an, weil sie einen Rottweiler aus mir machen wollte – sie hatte einfach nur Angst, dass ihr Junge in diesem Haifischbecken, das sich männliche Kindheit nennt, wegen seiner Gutmütigkeit fertiggemacht wurde.
Wie ich darauf komme? Ich glaube, dass es noch immer erhebliche Unterschiede in der Erziehung und den gesellschaftlichen Erwartungen an Jungen und Mädchen gibt und dass diese Auswirkungen haben, die weit über kindliche Prügeleien hinausgehen. Um meinen Punkt zu machen, muss ich ein wenig ausholen.
Als ich von den Vorkommnissen am Silvesterabend in Köln gehört habe, war ich wie viele andere auch, wütend. Und schockiert und ein wenig enttäuscht, dass es scheinbar unter den Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland so viele Schweine gibt, dass man sich mal locker zum massenhaften sexuellen Übergriff und Raubzug in Köln verabreden kann. Die öffentliche Debatte, die diesem erschreckenden Ereignis folgte, machte einige interessante Kapriolen: erst waren gar keine Flüchtlinge unter den Angreifern, dann waren es quasi nur Syrer, dann waren es zwar nicht nur Syrer, aber der Sexmob war doch nicht schlimmer als auf dem Oktoberfest. Schließlich beschwerten sich Feministen, dass es doch geradezu unverschämt sei, dass deutsche Männer sich erst über sexuelle Gewalt aufregen, wenn Ausländer „ihre“ blonden Germaninnen begrapschen.
Das alles mag wahr oder falsch oder irgendwas dazwischen sein – in jedem Fall fällt auf, dass die Täter unabhängig von aktueller oder ehemaliger Nationalität eines gemein haben: Es handelt sich um Männer. Ich finde es plausibel, dass Männer aus einer streng patriarchaischen Kultur mit wenig Respekt gegenüber Frauenrechten leichter derart übergriffig werden. Aber natürlich gibt es auch unter westlichen postmodernen Ex-Primaten immer wieder Rückfälle. Warum ist das eigentlich so? Es sind relativ wenige Fälle von Frauen bekannt, die Männer begrapschen oder sexuell nötigen (auch wenn es natürlich auch das gibt). Dabei ist doch auch das ein Verhalten, das prinzipiell möglich wäre – viele Männer wären ebenfalls perplex und unfähig zu adäquater Grenzsetzung, wenn man sie bedrängen würde. Es gibt genug Situationen der Abhängigkeit, die Frauen genauso schamlos ausnutzen könnten wie Männer. Und schließlich egalisieren Waffen die körperliche Ungleichheit der Geschlechter in gewissem Maße und würden sogar gewaltsame Übergriffe prinzipiell ermöglichen.
Doch warum passiert das nicht? Ich glaube, dass die männliche Prägung patriarchaischer und post(?)-patriarchaischer Gesellschaften Übergriffe, Gewalt und Dominanzgebahren bei Jungen geradezu erzwingt, während sie selbiges Verhalten bei Mädchen mit Scham belegt. Dass die unter Kopftuch und Pantoffel gezwungene Muslima, die ihrem Mann Untertan ist (verzeiht mir den Griff in die Klischeekiste und no offense intended für alle Muslima, die ganz anders sind), in eine Opferrolle geradezu gezwungen wird, leuchtet leicht ein. Aber was ist mit emanzipierten deutschen Frauen? Es ist ja nicht einmal immer die körperliche Überlegenheit eines Angreifers, die die Demütigung hervorruft. Oft ist es ja die Unfähigkeit, wirksame Grenzen zu setzen. Die Angst vor derartigen physischen Konflikten. Mädchen werden – anders als Jungen – oft nicht auf dieses Haifischbecken vorbereitet. Wobei, das sei hier betont, auch bei weitem nicht jeder Mann gegenüber Angreifern zu adäquaten Reaktionen fähig ist.
Sexuelle Gewalt hat eine soziale und psychische Komponente. In vielen, vielleicht den meisten Fällen, ist diese genauso verletzend wie die physische. Aufmerksame Leser dieses Blogs wissen oder ahnen, dass sexuelle Gewalt für uns kein unbekanntes Thema ist. Ms. Essential hat mir oft das Gefühl beschrieben, allein auf der Straße letztendlich nicht sicher zu sein. Den meisten Männern letztendlich nicht vertrauen zu können. Das ist nicht die Welt, in der die meisten Männer in Deutschland leben. Die Frauen mindestens zu erheblichen Teilen schon.
Ähnlich wie die psychische Komponente wird auch die soziale Komponente erlernt. Jungs müssen sich nicht nur körperlich durchsetzen – es wird vielfach erwartet, dass sie auch in sozialen Systemen ständig im Wettbewerb stehen und dabei auch Grenzen überschreiten. Natürlich relativiert eine moderne Gesellschaft einige dieser Unterschiede. Aber noch zu wenige …
Wie oft wird eigentlich inakzeptables Verhalten von Jungen schulterzuckend mit dem Kommentar „Jungs sind halt Jungs“ abgetan? Mädchen genießen diesen Schutzraum nicht. Wenn unsere Töchter sich in Prügeleien verwickelten, erklärten ihre Lehrer ihnen, dass Mädchen so etwas nicht tun. Als ein Junge einer von ihnen ungefragt seinen Penis zeigte, wehrte die Lehrerin ihre Klage mit den Worten „Du hättest ja nicht mitmachen müssen!“ ab. Gegen übergriffige und aggressive Jungs in der Schulpause gibt es den Rat „doch wegzugehen“. Kein Mensch kommt auf die Idee, einem kleinen männlichen Gestörten seine Marotten mal auszutreiben. Mädchen hingegen sollen immer brav stillsitzen, eine saubere Handschrift haben, und weglaufen.
Es ist einfach sich einzureden, dass die Silvesterangriffe ein singuläres Ereignis waren. Es ist auch einfach, jeden Mann als potenziellen Vergewaltiger zu brandmarken. Aber die Frage, welche gesellschaftlichen Prägungen noch immer männliche Täter und weibliche Opfer hervorbringen, muss ebenso erlaubt sein wie die, ob bestimmte religiöse und kulturelle Merkmale derartiges Verhalten nicht vielleicht begünstigen.
Was wurde den Angreifern aus Köln und den anderen betroffenen Städten wohl von ihrer Kindheit an vermittelt, dass solche Taten für sie akzeptabel erscheinen? Was wurde den Angreifern auf dem Oktoberfest vermittelt? Für uns Eltern stellt sich doch die Frage: Was müssen wir unseren Töchtern und Söhnen vermitteln, damit sie möglichst weder auf der einen oder anderen Seite mit solchen menschlichen Abgründen in Kontakt kommen?