Geburtsversuch Nr. 1

Geburtsversuch Nr. 1

Das Krankenhaus von Cremona

Weihnachten verbrachten wir in Begleitung eines befreundeten deutschen Pärchens, das uns über die Feiertage besuchen kam. Mit unseren Familien konnten wir nur telefonisch unsere Glückwünsche austauschen. Das empfand ich als etwas demprimierend. Wie gerne hätte ich meine Eltern in den Arm genommen und gedrückt.
Silvester verbrachten wir alleine in einer ungewöhnlichen Stille - die Cremoneser hielten nicht viel von Feuerwerk und ich vermisste das Begrüßen des neuen Jahres mit Leuchtraketen und Böllern.
Es war ein außergewöhnlich kalter Winter in Cremona. Mit noch nie dagewesenen Schneemassen, die die Italiener nicht gewöhnt waren und denen sie nicht Herr wurden. Dementsprechend groß war das Chaos. Die Stadtverwaltung suchte händeringend nach freiwilligen Männern, die gegen ein geringes Taschengeld helfen sollten, mit einer ganz normalen Schneeschippe, Kraft und Spucke die Straßen  vom Schnee zu befreien, denn es gab nicht genug Schneepflüge und Streusalz gab es sowieso viel zu wenig. Teilweise waren die Straßen spiegelglatt und unbefahrbar.

Geburtsversuch Nr. 1

Cremoneser Kathedrale im Winter

So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Es schneite und schneite. Die freiwilligen Schneeschipper wurden nicht arbeitslos und arbeiteten in Schichten Tag und Nacht. Die Busse konnten nicht mehr regelmäßig fahren und es kam vor, dass die Fahrgäste aussteigen mussten, um den Bus anzuschieben, da er sonst nicht  weiter kam.
Genau während dieser Zeit Anfang Januar bekam ich eines Tages vormittags Wehen. Dieses Mal richtige Wehen, die ich sehr deutlich im Bauch spürte. Sie kamen von Anfang an in Abständen  von ca. 10 Minuten. Also rief ich Italo an, damit er nach Hause kam und auf Bianca aufpasste, während ich mit einem Krankenwagen ins Cremoneser Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Fahrt dahin dauerte ca. 45 Minuten - dank des Schneechaos auf den Straßen.
Im Krankenhaus selbst wurde ich freundlich empfangen - im Cremoneser Dialekt, den ich bis heute kaum verstehe. "Non ho capito!" Ich habe nicht verstanden - das waren die Worte, die ich immer wieder sagte. Die Krankenschwestern und Hebammen waren freundlich und versuchten, mich zu beruhigen. Ich war doch sehr nervös in dieser fremden Umgebung, in der ich ganz alleine mein Kind auf die Welt bringen sollte und kaum das verstand, was man mir sagte.
Man brachte mich auf ein Krankenzimmer, an dessen Türe 8 fortlaufende Nummern standen. Erst verstand ich den Sinn nicht, aber später begriff ich, dass hier nicht die Zimmernummern angegeben wurden, sondern die Bettnummern, denn jedes Bett hatte seine eigene Nummer. Ich wurde in ein 8-Bett-Zimmer gelegt, jeweils 4 Betten standen sich gegenüber, folglich waren auch 8 Nummern an der Türe.
Ziemlich eingeschüchtert verstaute ich meine Utensilien in einem kleinen Schrank und legte mich ins Bett. Diese Wehen! Nach wie vor kamen sie in regelmäßigen Abständen, aber wenn ich das richtig verstanden hatte, dann waren sie noch nicht stark genug. Also stellte ich mich wieder auf eine langwierige Geburt ein.
Die 4 Frauen , die meinem Bett gegenüber untergebracht waren, hatten bereits entbunden. 2 Betten auf der Seite, auf der ich lag, waren noch leer. Direkt neben mir lag eine junge, zierliche Italienerin. Auch sie lag in den Wehen. Etwas konnten wir uns unterhalten und so erfuhr ich, dass sie 19 Jahre alt war, also knapp 4 Jahre jünger als ich, in ein paar Tagen würde ich 23 Jahre alt werden.
Ihre Wehen waren stärker als meine. Sie hatte ziemlich damit zu tun, änderte immer wieder ihre Position, um es sich erträglicher zu machen und klagte laut und mit durchdringender Stimme. Ich dagegen zog es vor, mit deutscher Disziplin leise vor mich hinzuleiden. Mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Die Hebammen hatten in der Zwischenzeit Schichtwechsel gehabt und die Neue kam in unser Zimmer und untersuchte uns beide. Weise nickend und freundlich lächelnd sagte sie zu uns:"Ich denke, wir 3 werden uns heute nacht wieder im Kreissaal treffen."
Danach wurde ich zu einem Untersuchungszimmer gebracht. Dort deutete mir der Arzt, dass er nun meine Cerclage entfernen werde, damit die Geburt ohne Komplikationen vonstatten gehen könne.
Ohne irgend eine Betäubung machte er sich an meinem Muttermund zu schaffen und zog das breite Gummiband heraus. Diese Prozedur war äußerst schmerzhaft und diesmal war ich es, die laut und mit durchdringender Stimme klagte. Doch ich überstand es und wurde anschließend wieder aufs Zimmer gebracht, wo ich weiterhin still vor mich hin litt.
Es war so gegen 20 Uhr, da wurde meine Leidensgenossin, die in der Zwischenzeit eine ganz beachtliche Lautstärke beim Jammern erreicht hatte, in den Kreissaal gebracht.
Ich empfand es als eine italienische Unsitte, dass in diesem Krankenhaus sämtliche Türen offen standen. Die Türen zu den Krankenzimmern, die Türen in den Gängen und... warum auch immer... die Türe zum Kreissaal.
So kam es, dass ich die Geburt des Kindes meiner Leidensgenossin in voller Lautstärke miterlebte. Über Stunden schrie sie. "Aiuto!...Lasciate mi!...Chè cosa fatte con me?... Voglio andare a casa!... Non ce lo faccio più!..." Hilfe!...Lasst mich!... Was macht ihr mit mir?... Ich will nach Hause!... Ich kann nicht mehr! Solche und ähnliche Rufe wurden immer lauter und die Abstände dazwischen immer kürzer.
Mir wurde ganz anders zumute! "Du liebe Güte! Was machten die da im Kreissaal mit diesem armen Mädchen?" dachte ich. Meine Wehen waren bis jetzt immer gleich geblieben. An Schlaf war nicht zu denken. Ich bekam es mit der Angst zu tun! Nein! Hier und jetzt wollte ich mein Kind nicht auf die Welt bringen! Ich spürte Gefahr und war nicht mehr bereit dazu. Und es ist erstaunlich, wie mein Körper reagierte. Meine Instinkte funktionierten und der Geburtsvorgang wurde unterbrochen. Wie genau das abläuft weiß ich bis heute nicht. Fakt ist, dass meine Wehen immer schwächer und schwächer wurden und schließlich ganz verschwanden.
Ganz früh am nächsten Morgen wurde meine Bettnachbarin total erschöpft zurück ins Zimmer gebracht. Sie hatte einem gesunden Sohn das Leben geschenkt. 3 Stunden später wurde ich - unverrichteter Dinge - aus dem Krankenhaus entlassen. Der Arzt meinte noch, dass ich bestimmt innerhalb der nächsten 2 Tage gebären würde.
Ich brauchte jedoch mehr als eine Woche, um mich von dem Schock zu erholen. Trotz der entfernten Cerclage dauerte es noch 9 Tage, bis ich wieder Wehen bekam.  Erst jetzt war ich bereit, mich auf das Abenteuer "Geburt in Italien" einzulassen.


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