Gebete für die Vermissten – Jennifer Clement

Von Christinaschr
“Meine Mutter hatte mir sehr früh beigebracht, ständig für irgendetwas zu beten. Bitte nie um Liebe und Gesundheit, sagte Mutter. Oder um Geld. Wenn Gott hört, was du willst, gibt er es dir nicht. Garantiert.”

An einigen Orten auf der Welt kann man gar nicht schön genug sein. Menschen verfallen dem Fitnesswahn, kosmetische Operationen gehören fast zum Alltag und Schönheitswettbewerbe werden regelmäßig abgehalten. Der Trend dieser Selbstoptimierung wird in Mexiko wohl nie Einzug halten, zumindest nicht im kleinen Bergdorf, wo Ladydi mit ihrer Mutter und anderen Freundinnen lebt. Schönheit ist hier gefährlich, gefährdet sogar das Leben. Die Mütter machen ihre Töchter hässlich, indem sie ihnen die Haare abschneiden und ihre Zähne schwarz färben.

Denn Drogenhändler sind in Mexiko immer auf der Suche nach hübschen Mädchen. Kommen sie in ihren SUVs mit Maschinengewehren in der Hand und Granaten in der Hosentasche, sind die Mädchen ihnen schutzlos ausgeliefert. Männer und Väter sind schon lange in die USA geflüchtet. Gelegentlich schicken sie Geld nach Hause zu ihren Müttern und Töchtern, manche melden sich gar nicht mehr. Die letzte Hoffnung sind dann die Erdlöcher, die Mütter ihren Töchtern gegraben haben, damit sie sich bei Gefahr in ihnen stundenlang neben Schlangen und Skorpionen verstecken.

Über zehn Jahre lang recherchierte die Autorin Jennifer Clement für Gebete für die Vermissten und sprach mit betroffenen Frauen, suchte sie sogar im Gefängnis auf. Entstanden ist ein schonungsloser Roman, der einen Einblick in den unglaublich tristen und bedrückenden Alltag der Frauen in Mexiko gibt. Die Frauen auf dem kleinen Bergdorf in Mexikos Bundesstaat Guerrero leben in ständiger Angst, Bedrohung und betäubender Ausweglosigkeit.

Protagonistin ist die vierzehnjährige Ladydi Gonzales. Mit dem merkwürdigen Namen wollte ihre Mutter keineswegs ihre Prinzessinenhaftigkeit betonen. Lady Diana ist für Rita ein Idol aller betrogenen Frauen. Der Name ist eine Rache an Ritas Mann, da er sie ebenfalls mehrmals betrog. Nun fristet sie ihr Dasein mit Alkohol und Dokus im Fernsehen. Perspektiven gibt es für niemandem auf dem Bergdorf, Schrecklichkeiten von allen Seiten sind gehören zur bitteren Realität. Im zweiten Teil eröffnet sich dann doch eine Perspektive für Ladydi. Für eine reiche Familie in der Stadt sucht ein Hausmädchen. Nach einigen Monaten voller Sorglosigkeit gewinnt das Böse jedoch wieder die Oberhand. Ein Albtraum beginnt für Ladydi, der ihr Vorstellungsvermögen trotz aller bisherigen Erlebnisse übersteigt.

Ladydi erzählt in einem lakonischen und trockenen Ton aus ihrem Leben. Sie wirkt unnahbar und abgeklärt, beinahe so, als hätte sie sich an Mexikos Schrecken und Gewalt gewöhnt. In der ersten Hälfte des Romans zieht sie den Leser in ihren Bann. Der Roman schockiert und verstört mit jedem Satz immer mehr. Erst ab der zweiten Hälfte verliert der vielversprechende Roman etwas an Schwung. Ladydi muss ins Gefängnis, ihr wird Mord an einen der Drogenbosse und seiner Tochter vorgeworfen.

Emotionslos schildert sie die schrecklichen Schicksale der Gefängnisinsassen und verliert ihre kraftvolle Stimme mehr und mehr. In einprägsamen Bildern beschrieb Clement zuvor die Leidensgemeinschaft der Frauen auf dem Berg, im Gefängnis ist davon nichts mehr zu spüren. Die Neutralität der Erzählerin färbt beim Lesen ab, für mich blieben alle weitere Figuren blass, ihre Geschichten berührten mich trotz aller Grausamkeiten nicht. Mit Gebete für die Vermissten hat Jennifer Clement es sich zur Aufgabe gemacht, auf die Schutzlosen und Ausgelieferten in Mexiko aufmerksam zu machen. Trotz sprachlichen Schwächen verliert der Roman dennoch nicht an seiner nachhaltigen Wirkung. Es ist ein Roman für all jene, die dazu bereit sind, unangenehme Wahrheiten zu ertragen.

Jennifer Clement: Gebete für die Vermissten. Suhrkamp. Berlin 2015. 228 Seiten. 8,99 Euro.