… in den Busbahnhof der Port Authority an der Südspitze Manhattans. Er war sichtlich betrunken und blutete. Über seiner linken Augenbraue klaffte ein sauberer Schnitt, der vom Fingernagel des Kindermädchens stammte, und von seiner Frau hatte er einen tränenförmigen Kratzer unterm Auge … Für die Polizei sah er wie der typische New Yorker aus. Ein blutender Mann, vom Nachtschweiß strähniges Haar … (Seite 7).
Barry steigt in einen Bus der Greyhound-Linie, um quer durch Amerika zu reisen. Es ist der Sommer 2016 – Donald Trump ist Kandidat für die Wahl zum Präsidenten. In den Gesprächen Barrys mit anderen Reisenden nimmt Shteyngart uns direkt mit in das wahre Amerika (tatsächlich war er für die Recherche zum Roman in dieser Zeit vier Monate lang mit dem Greyhound-Bus unterwegs und hat viele der Dialoge selbst erlebt und direkt in sein Handy getippt.).
Barry führt einen kleinen Rollkoffer voll wertvollster Uhren mit sich – seine absolute Leidenschaft. Und wie ich erfahren habe, auch eine Leidenschaft des Autors Shteyngart, der gestern zu Gast war in der Berliner Buchhandlung „Geistesblüten“. Mit Charme, Esprit und herrlichem Humor hat Gary Shteyngart uns alle in den Bann gezogen und den Abend zu einem wahren Event werden werden lassen. Moderiert von Christian Dunker und an der Seite von Schauspieler Oliver Mommsen, welcher mit großer Leidenschaft drei Passagen aus dem Buch gelesen und mich erinnert hat, wie sehr ich diesen Roman mochte (hier im Bild Autor Gary Shteyngart und Oliver Mommsen):
Früher war Barry ein begeisterter Leser, hatte Fitzgerald und Hemnigway verschlungen, doch das war 10 Jahre her. Heute gewinnt oder verliert er Millionen. Und es macht ihm nichts aus. Stürzt ein Fonds ab, wird ein neuer gegründet. Immerhin fragt er sich manchmal in Gefahrensituationen noch “Was hätte Hemingway getan?” – doch sein Herz im Umgang mit seiner Familie bleibt kalt. Barry möchte zwar wirklich gern ein perfekter Vater und Ehemann sein, aber es fällt ihm einfach so unglaublich schwer.
So kommt es auch zu dieser verzweifelten Situation am Romananfang. Barry hatte seinen autistischen Sohn umarmen wollen, woraufhin dieser schrie und um sich schlug, bis ihn das Kindermädchen Novie und Seema aus Barrys Armen “befreiten”. Die Wahrheit ist: Barry hält seinen dreijährigen Sohn unfähig zu jeglicher seelischen Wahrnehmung, für ihn ist klar, dass das Uhrwerk von Shivas Geist sich entweder rasend schnell drehte oder gar nicht. Viele Jahre später wird Barry erfahren, dass Shiva seinen “Vogelvater” bereits als Dreijähriger innig liebte. Doch war dieser selten da und “flog” meist schnell wieder davon.
Dieses Buch ist ein sprachliches Feuerwerk, extrem witzig und traurig zugleich. Familienszenen, die einem das Herz zerreißen wechseln zu den Berichten von Barrys Mitreisenden, welche von Drogen, Chancenlosigkeit und Obdachlosigkeit berichten. Es gibt aber auch seltsam komische Momente, denn Barry stolpert auf seinem Road-Trip in die absurdesten Situationen. Trotz allem ist er ja ein sympathischer Typ, dem man vielleicht ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen und Mitgefühl wünscht. Beispielsweise hat er diesen Uhrentick, trägt auf seiner Reise sehr dezent und völlig unbedenklich eine sehr wertvolle Patek 570.
Ihr Wert lag in ihrer Seltenheit – der Veblen-Effekt. Man musste schon über ein bestimmtes Vermögen verfügen, um sie überhaupt als wertvoll zu erkennen (Seite 89). Dieser Satz bezeichnet wohl am besten die Welt, in der Barry lebt. Ich frage mich, ob ich den Wert einer solchen Uhr erkennen würde. Sicher nicht. Doch in Barrys Welt leben möchte ich ja auch nicht, es ist also okay so. Und es war großartig, für ein paar Tage im Kopf von Barry zu wohnen und mit ihm auf diesen großartigen Trip zu gehen.
Gary Shteyngart. Willkommen am Lake Success. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Penguin Verlag München. 2019. 432 Seiten. 24,- €